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Judith Raum im KUNSTPAVILLON, Innsbruck

Judith Raum im KUNSTPAVILLON, Innsbruck

Auf Einladung der Tiroler Künstlerschaft nimmt unsere Stipendiatin Judith Raum an der Ausstellung “same time tomorrow” teil. Ein Großteil der Stimmen innerhalb der zeitgenössischen Kunstkritik betrachtet Forschung als Grundvoraussetzung jeglicher künstlerischen Arbeitsweise. Künstler als Forscher scheinen allerdings mit ihrer Praxis einen spezifischen Bereich innerhalb der Organisation und Kategorisierung von Wissen nach Systemen zu besetzen.

Same time tomorrow. A step is a dance, it is also a procession
Heimo Lattner (A/D), Jaime Lutzo (US), Günter Puller (A), Judith Raum (D)
Eröffnung: 19. April 2012 um 19.00, Begrüßung: Maria Peters, Vorstandsmitglied Tiroler Künstlerschaft
Dauer der Ausstellung: 20. April – 02. Juni 2012
Di – Fr 10.00 – 12.00, 14.00 – 18.00, Sa 11.00 – 17.00
Ort: Kunstpavillon, Rennweg 8a, 6020 Innsbruck, Austria
tel +43 (0)512 581133, fax +43 (0)512 585971
www.kuenstlerschaft.at

Künstlerische Produktion, die aus alternativen Formen der Annäherung an Information entsteht (Information, die potentiell immer für jede und jeden zugänglich ist), lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken oder quantifizieren. Forschungsbasierte künstlerische Praxis ist nicht auf objektivierbare Schlussfolgerungen ausgerichtet. Vielmehr bewirken die ideologischen und oft emotionalen Anteile und die in ihrem eigentlichen Wesen subjektive Dimension des künstlerischen Prozesses, dass Forschung und ihre Ergebnisse abstrahiert und kondensiert werden. Statt an der reinen Beschreibung sozio-ökonomischer, kultureller und historischer Ereignisse (Wissen) interessiert zu sein, richtet sich der kritische Fokus künstlerischen Forschens auf das Sichtbarmachen von Prozessen der Erkenntnissuche (Denken). Künstlerische Arbeiten in diesem Sinne sind nicht Produkt; sie sind vielmehr die Dokumentation und Präsentation eines Prozesses; eine von künstlerischer Praxis beeinflusste und mit ihr im Wechselverhältnis stehende Recherche, die selbst wiederum dokumentarischer Natur ist.

Die Ausstellung Same time Tomorrow. A step is a dance, it is also a procession verbindet Positionen von vier KünstlerInnen, die in ihrer Praxis Forschung und Beobachtungstechniken nutzen und Formen der Dokumentation zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit machen, während sich die von ihnen gewählten Annäherungenweisen an das untersuchte Material gleichzeitig deutlich unterscheiden. Mit künstlerischen Forschungen zu historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Fakten sowie kritischen Infragestellungen aktueller Zusammenhänge untersucht die Ausstellung die Dualität von Forschungsbewegungen, die von künstlerischer Praxis geleitet sind. Stets bildet hier der Prozess des Kunstmachens an sich ein essentielles Element, das – zusätzlich zum eigentlichen dokumentarischen Material – dokumentiert und ausgestellt wird.

Judith Raum
L’Inspecteur des Cultures

Die „Bagdadbahn“, ein gigantischer Plan für eine Eisenbahnlinie quer durch Anatolien und weitere Gebiete des ehemaligen osmanischen Reichs, die die Ölfelder von Bagdad mit Mitteleuropa verbinden sollte, wurde 1888 vom Osmanischen Reich initiiert und von deutschen Baugesellschaften unter Leitung der deutschen Bank realisiert. In deutschen, britischen und türkischen Archiven hat Judith Raum Bildmaterial und offizielle Korrespondenzen gesammelt, die die Ausbreitung deutschen Kapitals und die Sprach- und Bildpolitik, von denen die deutschen semi-kolonialen Anstrengungen in der Region zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt waren, dokumentieren. Neben der deutschen Stahlindustrie profitierten Dutzende andere Firmen und Unternehmer von dem großangelegten Bauprojekt. So förderte etwa die deutsche Textilindustrie Baumwollanbau und –produktion in Kleinasien, um zum Beispiel kleinere Manufakturen und Weberein in Bayern mit Rohstoffen zu versorgen. Die dort gewebten Textilien waren wiederum für einen globalen Markt bestimmt: gemusterte Ponchos, Tücher und Schals in den traditionellen Mustern erschiedenster Kulturen wurden von nordbayerischen Heimwebern in ihren Häusern produziert und weltweit vermarktet. Deutsche Landwirtschaftsingenieure (Inspecteurs des Cultures) wurden nach Anatolien entsandt, um die Nutzung von Landflächen zunächst zu untersuchen, dann zu beaufsichtigen und Profitabilität zu sichern.

Raum vermeidet die authoritäre, souveräne Sprache, wie sie in den offiziellen Dokumentationen und Korrespondenzen Verwendung findet, und kontrastiert sie mit behelfsmäßigen Strukturen und zufälligen Momenten, die die Lebensbedingungen der nomadischen Bahnarbeiter prägten. Die Künstlerin hat Belege für solche von Improvisation geprägten Umstände, die allerdings nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren, in den Archivmaterialien gefunden. Sie lenkt den Blick auf zufällig aufgegriffenen Metallteile, die, mit Schnüren befestigt, Webern als provisorische Gewichte dienten, um Spannungsverhältnisse innerhalb der Webstühle auszutarieren, auf die Risse und Verknotungen an den Zelten, in denen Arbeiter schliefen, oder auf provisorisch errichtete Brücken entlang der Bahnlinie, die wie ein prekärer Balanceakt wirken, und wiederholt diese Gesten in einer multimedialen Installation. Dem hermetischen System von Macht, kolonialem Empfinden und Fantasien von Marktkontrolle, auf das das Bagdadbahn-Projekt verweist, wird der menschliche Maßstab, das Fragile und Absurde entgegengehalten.

So macht die Installation den künstlerischen Prozess und gleichzeitig die künstlerische Forschung in Form von alternativen Präsentationen historischer und archivaler Dokumentation sichtbar. Einzelne Fragmente darin verdeutlichen unterschiedliche Zustände und Erkundungsmomente innerhalb des Arbeitsprozesses. Die Stoffbahnen reagieren auf Muster, die aus bayerischen, für den osmanischen Markt bestimmten Textilien dechiffriert wurden und stellen gleichzeitig eine Reflektion des Mediums Malerei dar. Spuren von mit der Hand ausgeführten Druckvorgängen verweisen sowohl auf Produkte, die am laufenden Meter hergestellt werden, als auch auf die mit künstlerischem Wert aufgeladen Leinwand wird.