Out of the Blue – Vom Provisorium bis zur Improvisation
Vorwort
Out of the Blue.
Vom Provisorium bis zur Improvisation: Handlungsstrategien im Ungewissen
27.-29. Oktober 2017, Symposium im HKW - Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Berlin Centre for Advanced Studies in Arts and Sciences
Künstlerische Leitung: Margit Schild
zu den Video- und Audiobeiträgen
Vorwort der Veranstalter-/innen
"Houston, wir haben ein Problem!"– eine Kombination aus Socke, Pappe, Plastikbeutel und Klebeband rettete im Jahre 1970 den drei Besatzungsmitgliedern der gescheiterten Mondmission Apollo 13 das Leben. Der provisorische Luftfilter war das Ergebnis einer technischen Improvisation und ein Ausdruck dafür, wie im unumkehrbaren Verrinnen der Zeit die einzige Chance genutzt wurde.
Mondfähren sind Vorzeigeprojekte der Hochtechnologie. Mit einem immensen Aufwand an Vorbereitung wird versucht, alle möglichen Geschehnisse vorwegzudenken. Gerade dieser Fall zeigt, dass immer und überall Unvorhersehbares passieren kann und daher improvisiert werden muss. In kleinen übersichtlichen Situationen (Provisorien im Haushalt) ebenso wie im Hinblick auf gravierende, staatenübergreifende Fragestellungen in offenen Kontexten und unsicheren Verhältnissen. Die Bandbreite an Improvisation ist groß – sie reicht von der Notlösung im Alltag zur hohen Kunstform in Musik, Schauspiel und Tanz; vom Vorbereiten/Vorsorgen („provisio/providere“) zur Verbesserung/Verfeinerung („to improve“).
Wegen dieses großen Spektrums gilt das Improvisieren nicht nur als Kernstrategie des kreativen/künstlerischen Schaffens, sondern als etwas, das potentiell im menschlichen Handeln verankert ist. Es ist, davon gehen wir aus, in allen Disziplinen und Kulturen vertreten und kann inter-, beziehungsweise transdisziplinär diskutiert werden. Improvisiert wird in der Politik, in den Künsten, in der Medizin, der Psychologie, den Ingenieurwissenschaften, der Architektur oder in der sozialen Arbeit, auf der Baustelle und im Krankenhaus. Aber auch der Kapitalismus entdeckt ein Potenzial darin, dass Improvisierenden jedes Mittel Recht ist, um ihre Lage zu retten. Stellen werden gestrichen und Menschen entlassen; die noch verbleibenden werden kreativ, erfinden neue Mittel und geben vollen Einsatz. Der Ausnahmezustand wird zur Regel, der Druck erhöht und dauerhaft muss improvisiert, ständig "Eisen aus dem Feuer geholt" werden. Hier zeigt sich, dass die Ausgestaltung und Bewertung des improvisatorischen Handelns von Milieus abhängig ist und nur im Kontext kulturell/politischer Zusammenhänge betrachtet werden kann.
Deshalb haben wir für das Symposium drei Horizonte definiert, die sich in drei Betrachtungsebenen widerspiegeln: 1. Die Ebene der spezifischen Bedingungen, unter denen Provisorien entstehen und spezifischen Formen, die sie annehmen, 2. die Ebene der gesellschaftspolitischen Umstände, die systembedingt Unsicherheit erzeugen, um Menschen in Arbeit und Leben zu kreativen Höchstleistungen zu zwingen, 3. die Ebene der Erweiterung konventioneller Handlungsbegriffe hin auf andere Vorstellungen situativen, umweltbewussten und intuitiv vorausschauenden Agierens.
Im Rahmen der dreitägigen Veranstaltung vom 27. bis zum 29. Oktober 2017 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin haben Gäste aus verschiedenen wissenschaftlichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Bereichen in Vorträgen zu Fragen der Improvisation Stellung bezogen. Workshops und Talks boten parallel dazu Anregungen und Gelegenheiten zum Austausch. Das Symposium richtete sich an alle Interessierten: an Berufsgruppen, die beständig improvisieren oder mit Provisorien arbeiten, sowie an Künstler-/innen, Wissenschaftler-/innen, Praktiker-/innen und Theoretiker-/innen, die einen genaueren Blick auf die vielfältige und interessante Kulturtechnik des Im-Provisorischen richten möchten.
Wir freuen uns, die Vorträge und die Debatten in den Workshops in Form von Video- und Audioaufnahmen präsentieren zu können. Das Programmheft der Tagung liegt als PDF vor, ebenso das ausführliche Konzept, das im Vorfeld der Tagung den inhaltlichen Rahmen vorgegeben hat. Bezogen auf die Veröffentlichungsrechte der Video- und Audiomitschnitte weisen wir auf folgendes hin: Von Harald Welzers Vortrag "Wer handelt wann und warum nicht" steht ausschließlich ein Transkript als PDF zur Verfügung. Von den Teilnehmerinnen des von Jan Verwoert moderierten Workshop "Aufstand der Versuchskaninchen: Kann Improvisation mehr sein als Überleben auf Probe?" liegen keinerlei Einwilligungen vor. Eine Veröffentlichung der Ergebnisse können wir deshalb leider nicht anbieten. Und der Talk "Improvisation interdisziplinär" besteht aus zwei Videos und einer Audiodatei.
Die Publikationswebsite für "Out of the Blue" liegt zweisprachig vor, in Deutsch und in Englisch. Eine Ausnahme hiervon bilden die Workshops, die jeweils in der ein oder anderen Sprache abgehalten und nicht übersetzt wurden.
Dank
Unser Dank gilt den Mitwirkenden des Symposiums, der Einstein Stiftung Berlin für die Finanzierung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des "Haus der Kulturen der Welt" für die Umsetzung der Veranstaltung.
Die drei Tage des Symposiums
Improvisiertes Schauspiel und improvisierte Musik bildeten den künstlerischen Auftakt am Freitag, den 27. Oktober. Die "Gorillas", Improvisationstheater aus Berlin, vertreten von den Schauspielerinnen Barbara Klehr und Billa Christe, führten in die Grundlagen ihrer Kunst ein und reagierten ad hoc auf Zurufe des Publikums. Das UdK-Improvisationsorchester unter der Leitung von Maja von Kriegstein ist ein multidisziplinäres Ensemble; Studierende der Studiengänge Architektur, bildende Kunst, Bühnenbild, Jazz, Orchesterinstrumente, Produktdesign, Rechtswissenschaft, Rhythmik, Schulmusik, Soziale Arbeit und Tanz setzten das Thema fort und integrierten unter anderem Notenständer und Klebeband in ihre Improvisationen. Ebenfalls spontan und auf Zuruf aus dem Publikum erläuterte Rolf-Bernhard Essig die Hintergründe von Sprichwörtern rund um das Provisorische. Das Trio Brachiale bildete mit ihrem Konzert den Abschluss dieses Tages.
Das simultane Konzipieren und Ausführen von Kunst wurde von der Musikerin Sabine Vogel präsentiert, die am Samstag morgen die Teilnehmer-/innen des Symposiums zu einer "Echtzeit-Komposition" animierte. Hierfür verwendete sie eine multidisziplinäre Gesten- und Komponiersprache, das "Soundpainting".
Anschließend eröffnete Margit Schild die Vortagsreihe. Den Auftakt bildeten Szenen aus dem Film "Apollo 13", der, statt der geplanten Mondlandung, explizit die Geschichte eines Provisoriums erzählt. Mit Ronald Kurt im Anschluss konnte damit ein weites Spektrum der Thematik, das vom "Vom Provisorium..." "...bis zur Improvisation" reicht, entfaltet werden. Edgar Landgraf vertiefte danach den Aspekt "Improvisation als Kunst", indem er die Verbindungen zwischen künstlerischem und improvisiertem Handeln aufzeigt und fragt, wann und wie Improvisation überhaupt als Kunst verstanden werden darf.
Der Samstag Nachmittag war den Talks und Arbeitsgruppen gewidmet. Talk 1 "Improvisation interdisziplinär" brachte Vertreter-/innen aus neun verschiedenen Disziplinen in einen schnellen Schlagabtausch. Spontan mussten gemeinsame Themen entwickelt und über improvisatorische Aspekte des eigenen Berufes referiert werden. Unter anderem nahm ein Physiker des Helmholtz-Zentrums ebenso dazu Stellung, wie eine Historikerin und eine Landschaftsarchitektin.
Parallel dazu fand der von Michael Rüsenberg moderierte Workshop "Die improvisierte Kanzlerin" mit Michael Pauen und Robin Alexander statt, in dem u.a. die Frage diskutiert wurde, inwieweit im Tagesgeschäft der bundesdeutschen Politik Improvisation eine Rolle spielt.
Was bedeuten Improvisation und Provisorien in verschiedenen Kulturen? Diese und andere Aspekte wurden in Workshop 2 erörtert. Mimi Gellman, vom Rattlesnake Clan der Aboriginal Métis aus Kanada und Ajay Heble, ebenfalls aus Kanada, sprachen über die Kunst der First Nation People und die Bedeutung des Improvisierens in der Black Community. Markus Schmidt ergänzte die Diskussion mit seinen Forschungen über Improvisation in der traditionellen indischen Musik.
Die zweite Hälfte des Nachmittags galt dann der Frage, ob die Improvisation mehr sein kann als Überleben auf Probe. Der von Jan Verwoert moderierte Talk 2 "Aufstand der Versuchskaninchen" besetzt mit Doris Gstach, Judith Hopf und Ilse Lafer, befragte kritisch die "Improvisation in sämtlichen Lebenslagen", der eben auch die Kreativberufe permanent ausgesetzt sind.
„Das machen wir jetzt erst einmal so!” ist ein Kernsatz des Herstellens von Provisorien und des improvisatorischen Handelns, das nach Lösungen sucht für plötzlich auftauchende komplizierte Situationen und unerwartete Entscheidungszwänge. Doch welcher Art und Qualität sind die so entstandenen Ideen? Diese und andere Fragen wurden im Workshop 3 erörtert "Das Improvisieren und die Idee", besetzt mit der Designerin Uta Brandes, dem Physiker Paul Gaslowski und dem Soziologen André Stiegler.
Zwischen den Veranstaltungen zeigte die Künstlerin Elvira Hufschmid ihre Performance "Drawing from life - tv drawings", in der sie versuchte, die schnell geschnittenen und somit stetig wechselnden Bilder eines Hollywood Filmes zeichnerisch einzufangen. Zu beobachten war die sofortige Wiedergabe der wahrgenommenen Bilder in einer groben Skizze. Hier bedeutet Improvisation das simultane Konzipieren und Ausführen einer künstlerischen Handlung.
Die Kunstaktion "Abendbrotkongress. Der Tag kommt auf den Tisch", von Ingke Günther und Jörg Wagner, bildete den Abschluss des Samstags. Die Teilnehmer/-innen und Gäste des Symposiums wurden im Foyer des Hauses zu Tisch gebeten, denn "das kalte Abendessen heißt im Alltag häufig: Improvisieren auf der abgezirkelten Fläche des Küchentischs", so die Künstler-/innen.
Am letzten und dritten Tag von "Out of the Blue", Sonntag, 29. Oktober, fand nochmal eine Vortragsreihe statt. Als erstes gab Ajay Heble einen Einblick in verschiedene Aspekte des "Community Buildings" durch Improvisation, indem er aufzeigt, wie spontanes kreatives Handeln eine Resource für gesellschaftlich/soziale Veränderungen sein kann: Play Who You Are: Learning from a Decade of Community Improvisation.
Wie kommen Handlungsbereitschaften zustande? Wer handelt wann und warum nicht? Der Sozialpsychologe und Buchautor Harald Welzer hat sich diesen – für das improvisierende Handeln entscheidenden – Fragen gewidmet. Als spontanes Auswerten von Situationen entwickelt es in den Momenten, wo es nicht konventionell, sondern emanzipativ geschieht, erst jenes Potential, von dem am Anfang die Rede war: Als paradoxe und widerständige Intervention kann das Improvisieren andere Vorstellungen von der Welt einleiten. Oder dazu beitragen, Qualitäten und Fähigkeiten gesellschaftlich Geltung zu verschaffen, denen die Sorge für andere innewohnt und Umweltkräften ihre eigene Stimme zuerkennt. Es ist dann eben als ein "radikal anderes Verständnis, das Handeln zu erfahren", so Jan Verwoert in dem letzten Vortrag des Symposiums, den er mit einem Zitat des Kampfkünstlers Bruce Lee betitelt: "Be water my friend".
Eindrücke
Impressum
Berlin Centre for Advanced Studies in Arts and Sciences (BAS)
Universität der Künste Berlin
Einsteinufer 43
10587 Berlin
Tel.: + 49 (0) 30 3185 2784
Künstlerische Leitung: Margit Schild
Team: Nik Haffner, Carina Krause, Lena Loose, Jan Verwoert, Hannah Wiemer, Antje Havemann
Produktion: Sibylle Kerlisch, Daniela Silvestrin
Film- und Audiodokumentation: Luise Schröder und Madeleine Dallmeyer
Foto Cover/Layout Programmheft und Programmübersicht: Katja Hommel
Veranstaltung und Publikation wurden unterstützt durch die Einstein Stiftung Berlin.