TALKING PICTURE BLUES
TALKING PICTURE BLUES
TALKING PICTURE BLUES
Eine Ausstellung des Melton Prior Instituts für Reportagezeichnung in Düsseldorf, organisiert von Clemens Krümmel
1. November 2013 bis 11. Januar 2014
Alice Creischer | The Grand Moving Mirror of California, Los Angeles | Stefan Hayn | Winsor McCay | The Museum of Modern American Art, Berlin | Samuel Nyholm | Felix Reidenbach | Viola Rusche | Karin Sander | Albrecht Schäfer | Romana Schmalisch, Mobile Cinema | Dierk Schmidt | Andreas Siekmann | Shane Simmons
“Talking pictures” – damit sind künstlerische Bildformen und Bildpraktiken gemeint, bei denen auf verschiedene Weise behauptet wird, Bilder könnten sprechen. Oder sie müssten gar sprechen, für sich selbst sprechen, anderenfalls nämlich handele es sich um “schlechte Kunst” oder gar keine Kunst. “Wenn meine Bilder nicht für sich selbst sprechen, dann bin ich als Künstler gescheitert.” Solche oder ähnliche Formulierungen hört man seit Beginn der Moderne immer wieder, wenn Künstlerinnen und Künstler sich auf die Autonomie ihrer Werke beziehen. Und doch haben sich seit langem nicht nur um solche Werke herum, sondern auch als hybride künstlerische Produktionsformen eigenen Rechts Praktiken des Textbilds, der textbasierten dokumentarischen Kunstformen, der Bildbeschreibung und der Bildrezitation entwickelt, die bei “Talking Picture Blues” im Mittelpunkt stehen.
Die Ausstellung geht – wie für das Melton Prior Institut für Reportagezeichnung in seinen Ausstellungen und Veröffentlichungen charakteristisch – an den Beginn von Industrieller Revolution und künstlerischer Moderne zurück, um so in den heutigen Kunstproduktionen für selbstverständlich gehaltene Überzeugungen vor einem historischen Hintergrund zu befragen. Sie lenkt in einem montageartigen Aufbau die Aufmerksamkeit auf Traditionen im Umgang mit und bei der Herstellung und Vermittlung von Bildern, die bis zu den allgegenwärtigen Bildschirmpräsentationen der heutigen Zeit ausgreifen. In diesem kabinettartigen Rahmen sollen Werke und Bilder aus diesem mehr als hundert Jahre alten künstlerischen Feld einander gegenübergestellt werden, die vielleicht auch ohne eine verbale, schriftliche oder performative Vermittlung als Kunst wahrgenommen würden. Doch zeigt sich in den ausgewählten Bildern entweder ein geschärftes Bewusstsein von rhetorischen Bildqualitäten im Sinne der Sprachen, die in den großen modernen Konkurrenz von Fotografie und Film entwickelt wurden. Oder es rückt – sei es als gefilmte Dokumentation oder auch als Live-Aufführung – eine buchstäbliche Kommentarebene hinzu. Solche Kommentare, aber auch Rezitationen, Beschreibungen, Fantasien lassen sich in der Ausstellung nicht nur im Sinne einer Konkurrenz zum vermeintlich ganz autonomen Bild, sondern auch im Sinne einer Koproduktion erfahren.
Entweder innerhalb von collagehaften Wandarrangements oder auch in Dokumentationen von Aufführungen wird so etwas wie eine besondere, teils verdrängte Tradition des “Sprechens neben Bildern” wachgerufen. Die ersten bildlichen Anspielungen in der Ausstellung reichen bis in die frühe Neuzeit, die Schwelle zur Renaissance zurück. Mit dem verkleinerten Modell des Grand Moving Mirror of California, Teil des Velaslavasay Panorama in Los Angeles, eines Bildrezitationstheaters, wie es sie im 19. Jahrhundert gegeben hat, bezieht sich ein Hauptexponat auf die Frühzeit der Bildindustrie, in diesem Fall in einer Evokation der US-amerikanischen Vaudeville-Theater, die wie hier mit gemalten Rollenbildern die Geschichte der populären Bewegtbilder für ein Massenpublikum vorwegnahmen. Während die Bildrolle weitergedreht wird, beschreibt er mit der zeittypisch übertriebenen Gestik und Mimik und mit dramatischer Zuspitzung das sich vor den Augen der Zuschauer abwickelnde Historienbild aus der Siedlungsgeschichte Kaliforniens.
Ein Protagonist des Vaudeville war auch der Comiczeichner und Pionier des gezeichneten Animationsfilms, der Amerikaner Winsor McCay – er schuf nicht nur einige der ersten längeren Zeichentrickfilme, er präsentierte sie auch als klassische “Showman”-Figur in den Filmtheatern der Vergnügungsparks seiner Zeit. Seine zentrale Rolle für die Thematik der Ausstellung wird zusätzlich belegt durch eine Auswahl von Original-Zeitungsseiten (aus der Bonner Sammlung Alexander Braun) seiner erfolgreichen Comicserie des frühen 20. Jahrhunderts, “Little Nemo in Slumberland”, in denen auf hinreißende Weise die Bildgestaltung rhetorische Verfahren des Films vordatiert und das Bild bis zum Bersten dehnt, spannt, verflüssigt, zum Gegenstand von Serialisierung, Spiegelung und Anamorphose macht. Aus der gleichen Zeit kommentieren die gewachsenen konkurrierenden Anforderungen an das Massenbild (damit aber auch an das künstlerische Denken im Allgemeinen) europäische Beispiele aus der Zeitungssammlung des Melton Prior Instituts: Die bereits vor 1900 farbig gedruckten Titelblätter in hoher Auflage erscheinender Illustrierter, wie etwa Le Petit Journal in Frankreich, verdeutlichen vielleicht am eindrücklichsten die ungeheuren Energien, die künstlerische Einbildungskraft und Erfindungsreichtum gegenüber den Möglichkeiten “automatischer”, technischer Bildproduktionen zur Anwendung brachten: Ihnen war beim damaligen Stand der Technik das Monopol auf eine “bereinigte”, den Moment einfrierende Sichtweise noch vorbehalten.
Eine weitere Linie wird hier lesbar: Bilder werden nach dem Wegfallen der Bild-Erzähler und Film-Erzähler im Druck, in der Vervielfältigung, aber auch im künstlerischen Einzelbild, immer stärker in ein dynamisierendes, bildrhetorisches Bezugssystem gesetzt, das sich, wie etwa bei Winsor McCay, in den Dynamisierung und Verzerrungen der Comic-Bilderrahmen erkennen lässt. Eine These, die die Ausstellung implizit formuliert: Das moderne Seitenlayout in Büchern und Illustrierten übernimmt Teile der moderierenden Aufgaben der Bilderzähler, es ersetzt in gewissem Maß die Verlebendigung durch den Rezitator (und verläuft natürlich auch parallel zum Bilddenken im Filmischen). … In diesem Zusammenhang werden drei “Cuttings” des Künstlers Albrecht Schäfer die Brücke zur Gegenwart schlagen – in der Satzspiegel und Layouts sich zunehmend verflüchtigen und entmaterialisieren. Seine gerahmten Zeitungsseiten sind nur mehr extrem fragile Rahmenstrukturen, in denen der Künstler alle Bilder und alles Schriftliche mit Hilfe eines Skalpells “herausoperiert” hat. Übrig bleibt jeweils die linear rhythmisierte Fläche nunmehr leerer Planungsfelder, ein Restbestand der Moderne.
Die selbstreflexiven, von der Frage nach den Möglichkeiten eines zeitgenössischen Historienbildes (nicht etwa einer Historienmalerei) ausgehenden Malereiprojekte von Dierk Schmidt, haben in den letzten Jahren ein beispielloses Set bildrhetorischer Kritikmethoden entwickelt und präsentiert. Sein Beitrag in dieser Ausstellung parallelisiert und konfrontiert nicht nur die Erscheinungsweisen des Ökonomischen in heutigen künstlerischen Positionen, er schafft auch sprechende, in diesem Fall konkrete Fragen an ihren Kontext stellende Bildkomplexe, deren fragile Materialität zugleich Wertbildungsprozesse der Kunstmärkte zur Disposition stellt.
Alice Creischer, die von Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit an großen Wert auf die Produktion künstlerischer und kritischer Texte gelegt hat, baute Ende der 1980er Jahre eine Art riesigen Walzenmechanismus, auf der Walze, die sie vor sich her schob, standen die Texte gedruckt, die sie im Gehen ablas und vortrug.
Andreas Siekmann ist in den vergangenen zehn Jahren als Schöpfer großer Bildzyklen bekannt geworden – die am Computer geschaffen werden, jedoch nicht mit den heute üblichen Hi-tech-Bildbearbeitungsprogrammen, sondern durch den “kreativen Missbrauch” einer nahezu altertümlichen Funktion des weltweit verbreitetsten Textverarbeitungsprogramms “Word”, die eigentlich nur für marginale Textornamentik geeignet scheint. Siekmann hat sich diese Bildproduktionsweise ganz und gar neu zueigen gemacht. Für seinen an Dantes Göttliche Komödie angelehnten Zyklus “Die Exklusive”, der im vergangenen Jahr vollständig (96 Blätter) im Kölner Museum Ludwig zu sehen war, konstruiert er in “Word” extrem schichtenreiche und komplexe Bilder aus dem Weltalltag der Entrechtungszonen, die sich im Zuge der Globalisierung zusehends verschärfen. Die Dichte der Bildinformation macht einen wichtigen Reiz dieser Serie aus – was aber, wenn der Künstler neben einigen Bildern der Serie kommentierend zu hören wäre, so dass der Informationsreichtum nicht mehr nur zu erahnen ist, sondern sich in gesprochener Sprache noch einmal auf andere Weise verwirklicht?
Der Maler, Zeichner, Filmemacher und Komponist Stefan Ettlinger hat in den vergangenen beiden Jahren mit einer sehr eigenwilligen Serie grafischer Blätter begonnen, von denen eine Auswahl bei “Talking Picture Blues” zu sehen ist. Seine Gemälde und Zeichnungen bestehen auch sonst immer aus mehreren Bildquellen, deren Übergänge sich oft nur erahnen lassen. Aber auch insgesamt zeichnet sein Werk eine einzigartige Flüssigkeit aus, ein extrem verfeinertes Gespür für “offene Stellen” in einem angeeigneten Bild (die meistens als Standbilder aus TV und Video gewonnen werden) und die sich dort ergebenden (oder verbietenden) Übergangsstellen. Was Ettlinger also üblicherweise mit großer, aber wie selbstverständlich erscheinender Virtuosität in seiner Malerei bildlich fusioniert, erfolgt hier, bei diesen Graphitdurchpausungen, auch in einer wie in deutscher Ausgangsschrift hingesetzten textuellen Ebene, bei der letzte Wortteil mit dem ersten des folgenden Worts verschmilzt. Für Ettlinger sind Bilder selbst immer schon Fusionen, die nur als solche erkannt werden müssen – womit er eine ganz grundsätzliche Bildvorstellung und Bilderzählungsidee vorschlägt, die ihre Wurzel ebenfalls an jener Grenze zwischen personal vermitteltem und technischem Bild hat, die im Zentrum der Ausstellung steht.
Das Museum of Modern American Art, eine Institution, die Ursprünge im ehemaligen Jugoslawien der 1980er und dann im New York der 1990er Jahre hatte, aber inzwischen schon seit mehreren Jahren ihren Sitz an der Frankfurter Allee in Berlin bezogen hat, versteht sich als modernismuskritisches Projekt, das sich mit Formen der musealen und kuratorischen Kunstvermittlung seit 1890 auseinandersetzt. In der Ausstellung gezeigt werden Aufzeichnungen äußerst nachdenklich machender, bildkritischer Vorträge von Angehörigen des Instituts – ein Vortrag über den Mondrian der 1960er Jahre in Belgrad (1987) sowie ein Vortrag über die Rolle von Tintoretto-Gemälden bei der vorletzten Venedig-Biennale (2011). Im Rahmenprogramm der Ausstellung ist auch ein aktueller Vortrag von einem Mitarbeiter des Berliner Museums vorgesehen.
Der Grafiker Felix Reidenbach hat in seiner Bilderserie “Hinomaru – Himmel voller Horizonte” eine interkulturelle Umkehrung des perspektivischen Denkens aufgegriffen, die bis heute viele Bildtheoretiker fasziniert: die Bildlogik des alten Japan, aus der eine “flache” Raumordnung entsprang. Reidenbach zeigt mit den aus seinen früheren Comics (in den 1990er Jahren in der Kölner Musikzeitschrift Spex erschienen) bekannten Figuren, “die niedlichen”, eine Geschichte der Zensur einer “falschen” Perspektive, die nicht so, sondern genau umgekehrt in den Geschichtsbüchern steht. Mit der fiktionalen Perspektivumkehr dieser aus 18 Blättern bestehenden Serie verbindet sich auch ein Aspekt des rednerischen, zeigenden Bezugs auf Bilder – wobei die Bilder hier vordergründig für eine bestimmte Art perspektivischer Darstellung stehen, darüber hinaus natürlich aber auch auf ganze Weltsysteme der Wahrnehmung und der Machtausübung anspielen.
Das leere Zentrum einer großen Collage-Wand im Salon nimmt ein Wandstück von Karin Sander ein – eine durch immer feinere Polituren und immer größere Verdichtung zu schlierigem Glanz gebrachte kleine Teilfläche der Wand, die eine Art Nullpunkt in der Imagination des Flächigen darstellt. Um diesen Nullpunkt herum sind mithilfe vergrößerter Fotokopien, festgepinnter Plakate und Kunstdrucke, gerahmter Zeitungsseiten, grafischer Blättern und Zeichnungen die Tiefenstufen der Bildfläche differenziert vor den Betrachter/innen aufgeschichtet. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Rahmenformaten und Kommentarebenen. Der Salonraum wird zudem dadurch weiter in der Tiefe gestaffelt, dass die im weißen Raum stehende Einbauwand als Rückwand für die angedeutete Konstruktion eines kleinen Bühnenraums dienen, auf der die Projektion des Animationsfilms “Lost Buildings” eines der interessantesten Illustratoren und Comiczeichner, Chris Ware (in Zusammenarbeit mit Ira Glass) gezeigt wird.
Im an die Säle angrenzenden Kabinett sind zwei Filme des Filmemachers und Malers Stefan Hayn zu sehen – “Malerei heute” ist ein sachlich gefilmter Report über ein Projekt des Malers Hayn, bei dem er über mehrere Jahre hinweg morgens vor und abends nach der Arbeit die großformatigen Werbeplakate in der Umgebung der Berliner U-Bahnen aquarelliert hat. Durch die lange Dauer seines Experiments, das er aus dem Off kommentiert, werden ungewöhnliche und keineswegs nur sachliche Erkenntnisse über den sich wandelnden Zeitgeist im (ehemals) “öffentlichen Raum” möglich. Neben dem Film werden vier der im Film behandelten Aquarelle gezeigt. Der zweite, kürzere Film “Ein Film über den Arbeiter” (18 min.) folgt einer ähnlichen Logik der engagierten, subjektiven Reportage, indem er den damals immer stärker von Entsolidarisierung gekennzeichneten Arbeitsalltag mit zeitpolitischen, künstlerischen und persönlichen Erzählsträngen verflicht. Auch zu diesem Film werden Bilder von Hayn zu sehen sein, die in diesem Fall der Vorbereitung des Films und der emotionalen Erschließung des bildnerischen Stoffbestands dienten und auch im Film erzählerische Funktionen ausüben.
Das “Mobile Cinema” der Künstlerin Romana Schmalisch, eine bewegliche Struktur, in der ein Videoprojektor eigens für die auf zahlreichen Reisen durch Mittel- und Osteuropa vorgeführte Filme auf einem halbrunden Monitor strahlt, ist ein Beispiel für heutige Praktiken der Bild- und Filmerzählung, die von Ort zu Ort ziehen und bei denen die physische “Präsenz” der Vortragenden noch immer eine bedeutende Rolle spielt, auch weil und gerade weil in den präsentierten Filmen Abwesende gezeigt werden. Das “Mobile Cinema” weist einen starken Rückbezug auf Filmpraktiken der russischen Avantgarden auf, von denen sich auch die eigentümliche Form des Präsentationsapparats ableitet.
Das Düsseldorfer Melton Prior Institut für Reportagezeichnung und Druckkultur, 2006 von Alexander Roob gemeinsam mit Clemens Krümmel gegründet, widmet sich einer international ausgerichteten Erforschung der Geschichte und Gegenwart der Reportagezeichnung und ihrer drucktechnischen Vermittlung. (www.meltonpriorinstitut.org)
Diese Ausstellung des MePri wird mit Mitteln der Stiftung Kunstfonds, Bonn, gefördert.
TALKING PICTURE BLUES
1. November 2013 bis 11. Januar 2014
Eröffnung: Freitag, 01. November 2013, 18Uhr – 21Uhr
Kunstsaele Berlin
Bülowstrasse 90, 10783 Berlin
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