Margarete Vöhringer "Messen, beschleunigen, anhalten, zurückdrehen. Das Zeitmanagement der russischen Avantgarde"

Abstract

Die russische Avantgarde ist als Kunst der Vorhut bekannt. Nach der Oktoberrevolution war sie an dem großen Projekt des Aufbaus einer neuen Gesellschaft beteiligt. Dabei galt es, die Zukunft des ›Neuen Menschen‹ nicht nur zu propagieren, sondern auch herbeizuführen. So entstanden Fotografien, Gebäude, Filme und Plakate, die zum einen zeigten, was zu tun ist, und zum anderen versuchten, zu einer Beschleunigung des Fortschritts beizutragen. Hierzu bedienten sich die Künstler etablierter Verfahren aus den Wissenschaften: Menschen wurden ebenso vermessen wie Stadtpläne; Fotografien montierten Ereignisse und schienen sie damit anzuhalten und sichtbar zu machen, wie dies die Arbeitswissenschaften mit menschlichen Bewegungen vermochten; im Film liefen die Bilder vorwärts und rückwärts, Zeit schien völlig frei handhabbar, während in der Medizin Verjüngungsexperimente stattfanden, die versuchten, die physiologische Zeit tatsächlich zurückzudrehen. Der Vortrag wird zu zeigen versuchen, wie sich ein Verständnis von ›Zeit‹ in den 1920er Jahren durch den Austausch von Kunst und Physiologie formierte und inwiefern dieses für seine Zeit spezifische Wissen bis heute lehrreich sein kann.

CV

Margarete Vöhringer ist Leiterin des Forschungsbereichs »Visuelles Wissen« und des Projekts »Wissenspraktiken. Bilder in der Geschichte der Psychophysik und Psychotechnik« am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Sie studierte Kunstwissenschaft und Medientheorie sowie Philosophie und Medienkunst an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. In ihrer Forschung interessiert sie sich vor allem für die Wechselverhältnisse zwischen Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, zwischen Theorie und Praxis sowie zwischen lokalen und globalen Wissensformen. Weitere Schwerpunkte sind die Praktiken und Materialien der Wissensentstehung, Kulturtechniken des Sehens sowie die Russische Avantgarde. Ausgewählte Publikationen: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion (2007); Wissenschaft im Museum – Ausstellung im Labor (hg. gemeinsam mit Anke te Heesen, 2014); Das Auge im Labor. Zur Erforschung und Gestaltung eines Organs (in Vorbereitung).

Quelle: Moskau, Metrostation Lubjanka, Tunnelansicht auf den Gleisen, in: Noever, Peter (Hg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, New York 1994, S. 171.
Quelle: Graduiertenkolleg "Das Wissen der Künste"
Quelle: Graduiertenkolleg "Das Wissen der Künste"
Quelle: Graduiertenkolleg: "Das Wissen der Künste"