Forschungsprogramm
Das Ziel des Graduiertenkollegs bestand in der Entwicklung neuer Ansätze zum Verständnis künstlerischer Wissensgenerierung. Das Kolleg ging dabei von der These aus, dass die Künste als genuiner Bereich der Produktion, Speicherung und Vermittlung von Wissensformen anzusehen sind, der im Austausch mit anderen kulturellen, sozialen, politischen oder ökonomischen Wissensbereichen der Gesellschaft steht. Aus diesem Grund richtete sich ein zentraler Aspekt der Forschung auf die Produktions- und Aushandlungsprozesse, in denen sich künstlerisches Wissen artikuliert und legitimiert. Das Graduiertenkolleg erweiterte damit bestehende Forschungen, nach denen jedes Wissen (auch das wissenschaftliche) nicht ohne ästhetische Anteile zu verstehen ist, und fragte umgekehrt nach den epistemischen Anteilen der Künste selbst. Schon gegen Ende der ersten Förderlaufzeit wurde deutlich, dass eine systematische Beschreibung der Produktion, Rezeption und Vermittlung von künstlerischem Wissen nur über eine Historisierung und Prozessualisierung des Wissensbegriffes selbst zu leisten ist. Gegen jede Form der Essentialisierung haben wir „Wissen der Künste“ deshalb nicht als neutrale, zweifelsfreie Instanz verstanden, sondern vielmehr als prozessuale, historische Konstellation. Unsere transdisziplinäre Arbeit stützte sich dabei auf verschiedene Wissenskonzepte, die vom „impliziten Wissen“ (als habitualisierte, praktische oder verkörperte Kenntnisse) über das „explizite Wissen“ (als propositionale Aussagen oder diskursive Verknüpfungen) bis hin zum „situierten Wissen“ in seinen lokalen, partialen und vernetzten Artikulationen reichte.
Im Ergebnis verstanden wir „Wissen der Künste“ als ein Resultat kultureller Aushandlungsprozesse, an denen Medien, Institutionen, Theorien, Artefakte und Materialitäten gleichermaßen beteiligt sind. In den Blick rückten damit auch Strategien des „De-linking/Verlernens“, durch die ästhetisch-normative Geltungsansprüche kritisch befragt und rekonzeptualisiert werden. Darüber hinaus untersuchten wir mit dem Wissen der Künste ein praktisches Vermögen entlang von Regeln, Entwurfs-, Gestaltungs-, Inszenierungs- oder Darstellungsmöglichkeiten, das zugleich als offen und kontingent zu denken ist. Erforscht wurde zudem, welche Darstellungsformen sich aus der Verschränkung von Technologien oder digitalen Verfahrenmit ästhetischen Praktiken ergeben.
Nicht zuletzt galt die Arbeit des Graduiertenkollegs der Bestimmung von Erkenntnispotenzialen der Künste, durch die tradierte Bestimmungen des Ästhetischen als reine Erfahrungsform überschrieben werden. Das Ziel des Kollegs, den Künsten eigene Epistemologien zuzugestehen, fordert etablierte Definitionsbereiche von Wissen heraus und schließt eine permanente Reflexion auf die Akademisierung, Institutionalisierung und Ökonomisierung von Erkenntnisformen ein.
Das Forschungsfeld des Graduiertenkollegs war in die folgenden fünf Teilbereiche gegliedert, die die maßgeblichen Fragekomplexe umfassen. Sie wurden aufgrund der Forschungsergebnisse der ersten Förderperiode für die zweite reformuliert, in ihrer Grundstruktur erwiesen sie sich jedoch als so tragfähig, dass sie über die gesamte Laufzeit erhalten blieben.
1. Wissen und künstlerische Praxisprozesse
In diesem Schwerpunkt wendete sich das Kolleg dem Anteil der Praxis an der Entstehung eigener Wissensformen der Künste zu. Es richtete sich zunächst auf implizite, habitualisierte bzw. inkorporierte Kompetenzen, wie sie den künstlerischen Schaffensprozessen in Form von körperlicher Geschicklichkeit, handwerklichen und technischen Fertigkeiten, routinisierten Verfahrensweisen oder Materialkenntnissen eigen sind. In den Blick rückten die Prozesse des Konzipierens und Gestaltens, des Entwerfens, Skizzierens und Modellierens in verschiedenen Kunstformen. In der ersten Förderperiode wurde deshalb das Veranstaltungsformat der Labore gegründet, in dem Künstler*innen ihre Arbeitsweisen vorstellten und diskutierten. Dazu gehörten auch die beiden Kooperationsworkshops Things, Materials, Knowledge mit der Forschungsgruppe „Knowing from the Inside“ der University of Aberdeen (2015 u. 2016). Ein zweiter Fokus lag auf Prozessen der Modellbildung und Digitalisierung, die vor allem im Bereich der Architektur weitreichende Veränderungen in der Konzeption künstlerischer Akte und Autorschaft bewirkt haben. Daraus erwuchsen Erkenntnisse, die für den Übergang in die zweiten Förderphase impulsgebend waren: zum einen, dass künstlerisches Wissen permanenten Reaktualisierungen unterliegt und zum anderen, dass Wissensgenerierungen sich nicht als bloß subjektive Ideenfindungen, sondern stets über ihre nicht-subjektiven Anteile realisieren. In der zweiten Förderperiode richteten sich die Forschungen deshalb auf Agency, Materialität und Situiertheit künstlerischer Schaffensprozesse. In zahlreichen Forschungsprojekten wurde die Produktivität und Performanz künstlerischer Materialien in ihrer Vernetzung mit Medien, Technologien, Körpern, Werkzeugen, Settings und Rahmungen untersucht. In der Ringvorlesung Tuning into worlds. More-than-human Aesthetics in the Arts (2019/20) und in Workshops mit Karin Harrasser, Pinar Yoldas, Christoph Cox u.a. richtete das Kolleg seine Aufmerksamkeit auf die Funktion der Künste als Artikulationsinstrument brisanter Erkenntnisse zu epochalen Veränderungen im Anthropozän. Wie gezeigt werden konnte, haben die Künste aktiven Anteil an der Verschiebung tradierter (natur-)wissenschaftlicher Narrative hin zu Ansätzen der neuen Ökologien und des Neomaterialismus. Wie produktiv für unsere Forschungen die Beschäftigung mit künstlerischen Praxisprozessen war, zeigte sich schließlich an der Abschlusstagung Das Wissen der Künste ist ein Verb (2021). Hier wurde das Forschungsfeld des Kollegs entlang eines vierzig Verben umfassenden Glossars kartographiert und darin die Verflechtungen von Künsten und Wissenschaften ausgehend von ihren jeweiligen Praktiken untersucht. Das breite Spektrum der Beiträge von „abduzieren“ über „experimentieren“ bis zu „zweifeln“ bezeugte zum einen die Vielfalt der Praktiken, in denen sich Künste und Wissenschaften miteinander verschränken. Mit der Zuspitzung auf Handlungen, Tätigkeiten und Zuständewurde zum anderen die Situierung von künstlerischem Wissen in konkreten lokalen, situativen, körperlichen und medialen Settings analysiert. Diese Beiträge von Mitgliedern aus allen Phasen des Kollegs sind als Podcasts und Texte im Open Access zugänglich.
2. Mediale Dispositive und künstlerisches Wissen
Für das Forschungsprogramm war die Überzeugung leitend, dass das Wissenspotenzial der Künste nicht ohne eine medientheoretische Perspektive untersucht werden kann. Denn sowohl die Hervorbringung von Wissen (in den Wissenschaften, in Museen, Presse/Journalismus, Jurisprudenz) als auch die Produktion und Rezeption von Kunst sind an Medien gebunden. Unter dieser Voraussetzung wurde mit einem kulturwissenschaftlichen Medienbegriff gearbeitet, der Medien über ihre Historizität, Technizität und Ästhetik analysiert. Apparate und Techniken sind in dieser Perspektive mehr als Werkzeuge zur Umsetzung einer künstlerischen Idee oder materielle Dimension eines Objekts. Vielmehr tragen sie spezifische mediale Eigenschaften, Dynamiken und Konventionen in die Kunstproduktion hinein. Der Forschungsschwerpunkt lag damit auf dem generativen Potenzial medialer Dispositive (das heißt, heterogener Gefüge aus Apparaten, Technologien, Institutionen, Diskursen und Körpern) für die Künste.
In der ersten Förderperiode wurde vor allem untersucht, wie künstlerische Techniken und Praktiken – sei es das Zeichnen, das Entwerfen mit dem Computer, das Herstellen von Modellen oder das Notieren eines Musikstücks – an der Entwicklung ihrer Gegenstände Anteil haben. Es kristallisierte sich heraus, dass es vor allem drei Aspekte sind, die unter dem Gesichtspunkt des Wissens der Künste von besonderem Interesse sind: 1) experimentelle Verfahren und Prozesse der Generierung neuer Artikulationsmodi und damit neuer Formen des Wissens; 2) die medial bestimmte (An-)Ordnung der in künstlerischen Prozessen relevanten Akteur*innen/Aktanten; sowie 3) die Frage nach der Speicherung, der Archivierung und Distribution von Wissen. Darauf aufbauend wurde in der zweiten Förderperiode dem Umstand Rechnung getragen, dass Künstler*innen im Rahmen ihrer Produktionsprozesse keineswegs die einzigen agierenden Kräfte sind. Sie befinden sich vielmehr in einem variablen Feld verteilter Handlungsmacht, das heißt in Bedingungsgefügen, die menschliche sowie nichtmenschliche Mitwirkende umfassen. Künstlerische Gegenstände werden vor dieser Folie als Ergebnisse technologischer, ästhetischer, ökonomischer und personaler Bedingungen begreifbar. Die Ringvorlesung Tuning into Worlds. More-than-Human Aesthetics in the Arts (WS 2019/20) hat dementsprechend künstlerische Entwurfs- und Forschungsprozesse als komplexe materielle Geschehen mit diversen Interdependenzen und Intra-Aktionen untersucht. In dieser Forschungsbewegung rückten insbesondere jene Praktiken und Gegenstände in den Blick, die an den Rändern oder außerhalb des Autonomiediskurses angesiedelt sind. Im Fokus standen darüber hinaus die Künste im Verhältnis zu den medialen Dispositiven der Wissensprozesse selbst. Wissensgenerierung und -etablierung bedürfen komplexer medialer Anordnungen des Aufzeichnens und Registrierens, des Ordnens und Speicherns, des Ausschließens und Distribuierens. Die ästhetischen Bedingungen wissenschaftlicher Wissensproduktion wurden beispielhaft in der Ringvorlesung Fakten schaffen (WS 2016/17) untersucht, die sich mit dem Verfahren des Dokumentierens in Wissenschaften und Künsten auseinandergesetzt hat. Dabei zeigte sich, dass Dokumentieren eine Weise der Wissenserschließung darstellt, bei der Sachverhalte gleichzeitig festgehalten, belegt und vermittelt werden.
Als wichtiger Forschungsertrag lässt sich festhalten, dass es Künste aufgrund ihrer Aufmerksamkeit für visuelle, auditive und materielle Prozesse in besonderer Weise vermögen, die impliziten medialen Bedingungen von Wissensproduktionen zu explizieren, wie in Fallstudien herausgearbeitet werden konnte.
3. Kunst und Episteme
Der Teilbereich firmierte in der ersten Förderphase unter dem Stichwort „Künstlerische Wissenssystematiken“ und widmete sich den begrifflichen und methodologischen Grundlagen der am Kolleg beteiligten Disziplinen. Dazu setzte sich das Kolleg in den drei Ringvorlesungen Gewusst wie! (2012/13), Anders wissen/anderes Wissen (2013/14) und Zwischenstopp. Sechs Blicke auf das Wissen der Künste (2014/15) mit den Fragen und Methoden neuerer Epistemologien kultur- und geisteswissenschaftlicher Provenienz auseinander. Ein besonderer Fokus der Forschung lag zudem auf den historischen Avantgarden und Neoavantgarden, da diese für Transferbewegungen zwischen Künsten und Wissenschaften von eminenter Bedeutung waren und in ihnen Umbrüche in Begriffen, Kategorien und Systematiken beider Wissensbereiche besonders evident wurden. In der Jahrestagung Kunst – Wissen – Arbeit (2014) und der anschließenden Publikation der Beiträge (Schriftenreihe des Kollegs Band 2, Paderborn 2017) gelang es, die gesellschaftliche Bedeutung künstlerischer Arbeit im Spannungsfeld von Handwerk/Technik, Theorie, gesellschaftlicher Praxis und Wissenschaft zu konturieren und künstlerische Produktivität vor dem Hintergrund zeitgenössischer Kreativitätsregime zu diskutieren.
Mit der zweiten Förderphase rückte das Verhältnis von Kunst und Erkenntnistheorie in den Fokus. Dabei erwies sich die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Formen künstlerischer Forschung – die durch Praktiken der Recherche, Investigation, Intervention oder experimentellen Entwicklung gekennzeichnet sind – als wichtiges Forschungsfeld. In mehreren Promotionsprojekten wurde dem spezifischen Erkenntniswert Recherche-basierter ästhetischer Verfahren nachgegangen. Die Frage, welche theoretischen Positionen die Künste aufnehmen und wie sie umgekehrt transformative Kräfte in der Theorie entfalten, hat das Kolleg gemeinsam mit der Gesellschaft für künstlerische Forschung, der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik und der Zürcher Hochschule der Künste auf der Tagung Forschungsmaschine: verschränkte Verfahren von Kunst und Wissenschaft (Volksbühne Berlin 2019) verfolgt. Deutlich wurde, dass die Transferbewegungen zwischen Künsten und Wissenschaften neue Verfahren, Ordnungssysteme und Forschungssettings in beiden Bereichen erzeugen, die für die jeweiligen Institutionen sowohl innovativ als auch herausfordernd wirken. Mit dem Symposium Ästhetik des Spekulativen (ACUD/UdK 2017) hat sich das Kolleg schließlich der Funktion des Nichtwissens in den Künsten zugewandt und ästhetische Verfahren aufgesucht, die Künftiges, Virtuelles oder Utopisches konfigurieren (vgl. Schriftenreihe des Kollegs Band 5, Bielefeld 2020). Nicht zuletzt ist das Anliegen des Graduiertenkollegs, Parameter eines spezifischen Wissens der Künste zu entwickeln, in der kritischen Auseinandersetzung mit bestehenden Theoriepositionen verfolgt worden. Über die gesamte Laufzeit diskutierten regelmäßig alle (Post-)Doktorand*innen in 14-täglichen Lektüreseminaren eine große Bandbreite bestehender Wissenskonzepte (wie propositionales, diskursives, implizites bzw. explizites, narratives Wissen u.v.a.). Hier erwiesen sich oftmals weniger die Theorien selbst, als vielmehr deren Grenzbegriffe (Aisthesis, Denken, Erkenntnis, Episteme etc.) als produktiv für die eigene Forschung. Die vom Kolleg herausgearbeiteten Merkmale künstlerischen Wissens als (a) performatives, materielles, situationsgebundenes Geschehen; (b) als praktisches Vermögen; (c) spezifisches Erkenntnispotenzial; (d) Resultat kultureller Aushandlungsprozesse und (e) Verfahren der Umwidmung und des „unlearning“ werden in der Publikation Plurale Perspektiven (Schriftenreihe des Kollegs Band 8, Bielefeld i.Vorb) zusammengefasst veröffentlicht.
4. Politiken des Wissens
Im Fokus dieses Teilbereichs stand die politische Performanz – d.h. die Generierung, Darstellung, Normierung und Legitimation – von Wissen durch künstlerische Praktiken. In der ersten Förderperiode lag der Fokus vor allem auf den normativen Strukturen und institutionellen Verankerungen, in denen sich Wissenschaften und Künste wechselseitig konstituieren und stützen. Das Kolleg untersuchte zunächst die Verfahren der Tradierung, Kanonisierung und Akademisierung in Archiven, Institutionen und Ausbildungsformen (siehe Einzelbericht Dittmann zur Akademiegeschichte). Hieran anknüpfend ließ sich für unsere Forschung eine politische Dimension gewinnen, insofern einerseits die Rolle der Künste bei der gesellschaftlichen Herausbildung und Stabilisierung von Wissensordnungen in den Blick rückte sowie andererseits kritische oder subversive Potenziale der Künste hervortreten konnten. Die zweite Förderperiode war daher von folgender Überlegung geleitet: Wenn das, was sicht- und wahrnehmbar ist, auf Machtkonstellationen beruht und diese zugleich hervorbringt, dann entfalten die Künste ihr politisches Potenzial nicht einfach durch Entgrenzungen in den sozialen Raum. Vielmehr muss gefragt werden, welche Funktion Künste und künstlerische Praktiken bei der Herausbildung und (De-)Stabilisierung von Wissens- und Sinnlichkeitsordnungen einnehmen. Wie tragen sie zur Zirkulation von Wissen bei? Wie regulieren sie das Sicht- und Sagbare? Diese Fragelinie hat sich als sehr produktiv für das Kolleg erwiesen.
So wurde in Jahrestagung und Publikation Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten (2016, Schriftenreihe des Kollegs Band 4, Paderborn 2018) die Frage nach Handlungsmacht und situierter Ästhetik aufgeworfen. Die Ringvorlesung Künste dekolonisieren. Ästhetische Praktiken des Lernens und Verlernens (2017/18) und die Publikation Gewaltsames Wissen (Schriftenreihe des Kollegs Band 3, Paderborn 2022) knüpften hier mit der Kritik epistemischer Gewalt aus postmigrantischer und postkolonialer Perspektive an.
Die Ringvorlesung Violence in the Arts (2018/19) hat dieses Projekt vertieft und auf die historischen Kontinuitätslinien rassistischer und sexualisierter Gewalt zugespitzt. Sie hat die Künste einerseits als Archive und Zeugen eines unterdrückten Wissens von Gewalt untersucht und andererseits ästhetische Praktiken als Interventionen in die Szenen der Gewalt verstanden. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Konzept der situated knowledges (Haraway) eine große Produktivität für die gemeinsame Forschung entfaltet hat, weil den Künsten eine herausragende Rolle bei der Narrativierung und Visualisierung von historischen, sozialen, lokalen und verkörperten Wissensformen zukommt. Dies gilt auch für minorisiertes Wissen und de- bzw. postkoloniale Perspektiven auf die Künste, denen in der AG Dekoloniale Ästhetik und in zahlreichen Workshops mit internationalen Gästen nachgegangen wurde. Aufgrund der Pluralität von Wissensformen und Perspektiven, die einen legitimen Wahrheitsanspruch erheben, war am Schluss der neunjährigen gemeinsamen Arbeit der bestimmte Artikel im Titel unseres Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ fragwürdig geworden (vgl. Schriftenreihe des Kollegs Band 8, Bielefeld in Vorb.).
5. Bildung – Transformation – Vermittlung
Der Fokus dieses Teilbereichs lag auf den spezifischen Anforderungen, die die Vermittlung künstlerischen Wissensstellt. Das Graduiertenkolleg verfolgte dabei die These, dass, um künstlerische Vermittlungsprozesse angemessen beschreiben zu können, die vielfältigen Praktiken, in denen sich künstlerische Produktion ereignet, zusammengedacht werden müssen: In der künstlerischen Praxis interagieren implizites, explizites, verkörpertes und diskursives Wissenfortwährend. Damit grenzte sich das Kolleg sowohl von Bildungskonzepten ab, die jedes Wissens auf Kompetenzerwerb, reduzieren, als auch von solchen Vorstellungen ästhetischer Bildung, die im Beharren auf Kunstautonomie jede Vermittlung als Pädagogisierung von Kunst verwerfen. Das Potenzial künstlerischen Wissens lässt sich vielmehr nur im Zusammenspiel von Temporalität, Prozessualität und Performativität jedes Verstehens- und Erkenntnisprozesses begreifen. Daran knüpfte die wichtige Forschungsfrage nach Machtverhältnissen in Vermittlungsprozessen und Möglichkeiten der Kritik hegemonialer Wissensbestände an.
Die erste Förderperiode konzentrierte sich auf ästhetische Bildung in einem Vergleich der Musik-, Theater- und Kunstpädagogik. Als besonders fruchtbar erwies sich der Blick auf künstlerische Praxisprozesse der Improvisation, des Entwerfens und der Notation. In gemeinsamen Workshops mit der Graduiertenschule der UdK Berlin und im Zusammentreffen mit Künstler*innen in sogenannten Laboren konnten hier konkrete Labor- und Atelierstudien durchgeführt werden. Die Jahrestagung „… macht aber viel Arbeit“. Kunst – Wissen – Arbeit (2014) zeigte, dass der Zusammenhang von (ästhetischer) Bildung, Vermittlungsarbeit, Wissen- und Kompetenzerwerb von traditionellen Konzepten des Lernens nicht hinreichend erfasst wird. Vielmehr muss der Wissenstransfer zwischen schulischer und außerschulischer Vermittlung, zwischen Kunst und Nicht-Kunst stärker konzeptualisiert werden. Die zweiten Förderperiode konzentrierte sich dementsprechend auf Emanzipations- und Transformationsprozesse im Feld der Künste und der Kunstvermittlung. Gefragt wurde nach dem Potenzial einer „Politik der Kunst“ (Rancière) und nach den Versprechen von Gleichheit und Gleichberechtigung. Damit rückte insbesondere das Konzepte des Verlernens (de-linking) in den Mittelpunkt: Die Gültigkeit kanonisierter Wissensbestände und Methodologien wurde befragt und dafür plädiert, marginalisierte Wissensformen zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen. Die Ringvorlesung Künste dekolonisieren. Ästhetische Praktiken des Lernens und Verlernens (WS 17/18) widmete sich mit internationalen Gästen (u.a. Trinh T. Minh-ha, Candice Hopkins) diesem Forschungsansatz. Die Fragen nach den Relationen zwischen künstlerischen und sozialen Praktiken wurde auch auf dem künstlerisch-wissenschaftlichen Symposium sharing/learning – methods of the collective in art, research and activism (2019) thematisiert. Hier wurde nicht nur theoretisch nach den Praktiken des Gemeinsamen und den Übersetzungsverhältnissen zwischen Kunst, Wissenschaft und Aktivismus gefragt, sondern in zahlreichen Workshops diese Übersetzungen auch erprobt. Die Relevanz von Relationalität für jedes Wissen der Künste wurde paradigmatisch untersucht in der 2018 durchgeführten Tagung und Publikation How to Relate. Wissen, Künste, Praktiken (Schriftenreihe des Kollegs Band 6, Bielefeld 2021). Es konnte gezeigt werden, dass sich künstlerisches Wissen innerhalb institutioneller, sozialer und technischer Infrastrukturen formt. Fragen nach kollidierenden Hegemonie- und Emanzipationsansprüchen wurden in den Forschungsprojekten der Kollegiat*innen in konkreten Fallstudien untersucht.
Inner- und außeruniversitäre Kooperationen
Das Graduiertenkolleg hat in seiner neunjährigen Laufzeit mit einer Reihe inner- und außeruniversitärer Institutionen kooperiert. An erster Stelle ist hier die an der UdK Berlin angesiedelte Graduiertenschule zu nennen, die seit 2009 ein international ausgerichtetes Stipendienprogramm für künstlerische Forschungsprojekte beherbergt. In gemeinsamen Veranstaltungen gingen beide Einrichtungen geteilten Forschungsfragen nach. Die Zusammenarbeit konnte nach Auslaufen der Drittmittelförderung der Graduiertenschule 2018 nicht mehr im selben Umfang aufrechterhalten werden. In 2017 wurde eine Kooperation mit dem Studium Generale aufgenommen, das als Lehrveranstaltungsangebot in allen grundständigen Studiengängen der UdK Berlin implementiert ist. In drei gemeinsamen Ringvorlesungen Künste dekolonisieren (2017/18), Violence in the Arts (2018/19) und How to relate (2019/20) gelang es bei anhaltend großem Interesse der Studierenden aktuelle Forschungsfragen unmittelbar in die Lehre zu integrieren. In der Reihe Labore untersuchte das Kolleg schließlich die Situiertheit künstlerischer Arbeitsweisen (u.a. von Lehrenden der UdK Berlin wie Monica Bonvicini, Alberto de Campo und Kirsten Reese). Diese Feldstudien wurden im WS 2020/21 Corona-bedingt in digitaler Form durchgeführt. Zu den erklärten Zielen des Kollegs gehörte seit 2015 die stärkere internationale Vernetzung und Sichtbarkeit. Als produktiv erwiesen sich hier die Kooperationen mit den Mitgliedern des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste (Dieter Mersch) zur Frage künstlerischer Episteme (2015), mit der University of Aberdeen (Tim Ingold) zum Praxiswissen (2016) und mit der Kunstuniversität Linz (Karin Harrasser) zu Verhältnis von Technologie und Affekt (2017). Mit dem Fokus auf Postkolonialität und dekoloniale Ästhetiken intensivierte sich die Zusammenarbeit mit Gastwissenschaftler*innen, Künstler*innen und Kurator*innen in globalen Zusammenhängen, wie Drew Thomson (New York), Trinh T. Minh-ha (Berkeley), Candice Hopkins (Albuquerque), Zeynep Sayin (Istanbul), dem Black Athena Collective (Chicago), Belinda Kazeem-Kaminski (Wien), Sarnath Banerjee (Dehli), William Kentridge (Kapstadt) oder Beatriz Colomina (Princeton). Nicht zuletzt hat das Kolleg mit einer Vielzahl von Kunstinstitutionen innerhalb Berlins kooperiert. So konnte 2018 mit der renommierten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine Veranstaltungsreihe initiiert werden. Mit den Kunsträumen SAVVY Contemporary, diffrakt – zentrum für theoretische peripherie, ACUD MACHT NEU und district * Schule ohne Zentrum entwickelte sich ein reger Austausch, der zu verschiedensten Veranstaltungsformaten zwischen Expert*innengesprächen, Filmscreenings, Tagungen, Lectures und Workshops führte. Damit leistete das Kolleg einen entscheidenden Beitrag zum Transfer zwischen Wissenschaften, Künsten und Stadtgesellschaft.