Wilma Lukatsch
Promotionsprojekt
„What do we want the world to know about us?“ – Kolonialer Ballast und künstlerische Strategien einer Ästhetik von survivance im Werk von Maria Thereza Alves (Arbeitstitel)
Maria Thereza Alves entwickelt seit den 80er Jahren ein künstlerisches Oeuvre, in dem Fragen und Möglichkeiten zeitgenössischer indigener Identität(en) in neo-/post-kolonialen Gesellschaften von zentraler Bedeutung sind. Dabei erforscht und erprobt sie Räume produktiver Selbstrepräsentation und verweist auf repressive, neokoloniale Mechanismen und Politiken von Fremdwahrnehmung und -bestimmung.
Ihre Projekte, die aus der Beobachtung und Erforschung der Geschichte(n) ihres direkten Arbeits- und Lebensumfeldes heraus entstehen, greifen immer die lokalen (historischen, sozialen, ökologischen etc.) Gegebenheiten, Notwendigkeiten und/oder Bedürfnisse des jeweiligen Umfelds auf. Die dialogischen Beziehungen, die Alves mit ihrer Umgebung (Um-Welt) führt, bilden die Grundlagen, aus denen Inhalt und Form ihrer Arbeiten erwächst und sich entwickelt. In meinem Forschungsprojekt möchte ich herausarbeiten, mit welchen Mitteln und künstlerischen Strategien Alves über Jahrzehnte hinweg die Welt in ihrem kolonialen Geworden-Sein zum Thema ihrer Arbeiten macht und damit die durch Kolonisierung unterdrückte(n) und zum Schweigen gebrachten Geschichte(n) als stories of survivance in das Feld der Kunst einführt.
Als indigen-brasilianische Künstlerin – wobei Alves „Indigen-Sein“ oder Indigenität als Topos weder strategisch (miß-)braucht noch für ihre Arbeiten instrumentalisiert – , die in New York aufgewachsen ist, benutzt Alves ihre Stimme auch als Übersetzerin an der post-kolonialen Bruchstelle Wir–Ihr. Sie bietet ihren Standort als international verankerte Künstlerin unterdrückten Gemeinschaften (We) an, um in kreativer Zusammenarbeit Fragen und Möglichkeiten in das post-koloniale Außen provozieren zu können; und sie schafft nach Außen (You) Bewußtsein für Sicht- und Diskursschranken. So kann man das von Alves in einer frühen Ausstellung in großen Lettern an die Wand geschriebene „Deconstruct your construct of my construct“ als Beunruhigung des Verhältnisses KünstlerIn–ZuschauerIn lesen. Das Dekonstruieren der/s Anderen als durch Kolonialität Gewordene/r steht in einer aktiven und historisch entstandenen Zeitgenossenschaft zum Ich als Schauender/m. Kunst anschauen und begreifen bindet die zwei Seiten der Kolonialität unablässig und immer wieder neu aneinander.
Folglich spielen westliche und nicht-westliche Identitätspolitiken/-konstruktionen bei der Dekonstruktion von Alves’ Arbeiten eine grundlegende Rolle, ohne daß Alves diese in westlich geprägten Binaritäten (Natur/Kultur, Kunst/Politik, Kunst/Leben etc.) auflöst oder formalästhetisch an westliche Klassifizierungsgewohnheiten adaptiert. Vielmehr entstehen mit und durch ihre Arbeiten Denk- und Handlungsräume, die allzu naheliegenden Formen der Zuschreibung ausweichen. In dieser Weise sind Alves’ Projekte unvorhersehbar und mit unbestimmtem Ende und so verstehe ich sie als beispielhafte Visionen einer dekolonialer Option. Die Analyse von Alves’ künstlerischen Strategien kann in dieser Hinsicht die aktuellen (vor allem in den Amerikas geführten) Diskussionen im Rahmen von decolonial aesthetics kritisch reflektieren, bereichern und bestenfalls schärfen.
Vita
Wilma Lukatsch studierte Kunstgeschichte, Religionswissenschaften und Soziologie an der Freien Universität Berlin und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2004 bis 2015 arbeitete sie als Galeristin, Verlegerin und Autorin. 2008 gründeten Barbara Wien und Wilma Lukatsch zusammen das tomas schmit archiv, Berlin, das sie bis 2015 mitbetreute (www.tomasschmit.com). 2016-17 erschloß Lukatsch das Künstlerarchiv von Maria Thereza Alves und entwickelte entlang der Arbeiten eine Archiv-Webseite (www.mariatherezaalves.org). Darüber hinaus führt Lukatsch seit 2004 Interwievs mit KünstlerInnen, die sie als eigenständige Textformen denkt und weiterentwickeln möchte und arbeitet zudem als freie Übersetzerin sowie Buch- und Webgestalterin.
Publikationen und Herausgaben (Auswahl)
Dreizehn Montagsgespräche, mit Tomas Schmit, hg. von Barbara Wien und Wilma Lukatsch. Galerie & Kunstbuchhandlung Barbara Wien: Köln/Berlin, 2008.
HOW TO WRITE – Künstler, die schreiben. Publikationsreihe mit Künstlertexten, hg. von Barbara Wien und Wilma Lukatsch, Berlin 2013/14.
Durham, Jimmy, Poems That Do Not Go Together, hg. von Barbara Wien und Wilma Lukatsch, Galerie & Kunstbuchhandlung Barbara Wien: Berlin/London, 2012.
Schmit, Tomas, katalog IV. (Werkverzeichnis 1997–2006), hg. von Barbara Wien und Wilma Lukatsch, Galerie & Kunstbuchhandlung Barbara Wien: Köln, 2007.
Aufsätze
„Hiroshi McDonald Mori: KIDOAIRAKU ? The Notion of Home Is More Than a Notion and Less Than Home (And Our Tongues Are Tools to Feel Close to Both)“, in: Das Haus #1, hg. von Aachener Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft mgH, Köln 2017, S. 110–133.
Rao, Shubigi, A so far true conversation with Shubigi Rao about her 10-years spanning project Pulp (2013–2023) by Wilma Lukatsch, Berlin: Katalog Künstlerhaus Bethanien, 2017.
„nicht immer alles dazu sagen! (no need to always give all explanations!)“, in: Tomas Schmit Katalog, Galerie Michael Werner: Köln, 2007.
„Über das Verhältnis von Sockel und Publikum bei Tomas Schmit oder ‚die dinge, die aus der kunst verschwinden müßten, sind wohl gerade die, die die kunst ausmachen.’“ in: Grenzen überwindend, Festschrift für Prof. Adam Labuda, Lukas Verlag: Berlin, 2006.