Freiheit und strukturierter Kontrollverlust

Quelle: Bühnenbild „Die Perser“, 2009, Foto: Christophoros Doulgeris

Wie kontrolliert ist der kreative Prozess? Und ist eine Ausstellung ein Endpunkt des kreativen Prozesses oder eine Zwischenstation? Mark Lammert ist ein Künstler mit einem breiten malerischen, zeichnerischen und bühnenbildnerischen Werk und tiefen philosophischen, politischen und historischen Interessen. Gabi Schillig, hybride Künstlerin-Architektin-Gestalterin, ist beschäftigt mit nonverbalen Kommunikationsräumen, mit dynamischen Beziehungsgefügen zwischen Körpern, Räumen und Architekturen.
Beide entfalten einen fluiden Bild-Raum des kreativen Prozesses.


Mark Lammert: Im Grunde ist jedes Vorzeigen ein Ausschnitt dessen, was man macht. Das kann ein Produkt sein, das können Zusammenhänge sein. Es geht um die Form, die man dafür findet. Und dann geht es, und das glaube ich eint fast alle Künste, um den Zweck. Hier kann man sich hinter verschiedenen Begriffen verstecken: Schönheit, Nützlichkeit …, etwas muss gut aussehen, praktikabel sein und irgendwie Sinn machen. Wobei Sinn auch Verweigerung sein kann. Man kann Erklärung verweigern, und auch das macht gelegentlich Sinn. Unterm Strich ist das immer eine Frage des Zugriffs.

Gabi Schillig: Ich habe mich gerade gefragt, ob das Ausstellen für mich so essenziell ist. Manchmal gibt es ein Zögern, einen leichten inneren Widerstand, die eigenen Arbeiten in einer Ausstellung zu zeigen. Ich arbeite häufig kontextuell und in bestimmten flüchtigen und temporären Konstellationen, d. h. in der Regel nicht für Galerien oder für den White Cube. Mit Yui Kawaguchi, einer japanischen Choreografin und Tänzerin z. B. arbeite ich seit vielen Jahren immer wieder eng zusammen. Es entstehen experimentelle Arbeiten, zeit-, raum- und körperbezogene Ereignisse, die für kurze Momente existieren, aber auch wieder schnell vergangen sind. Mich interessiert vor allem das Ephemere, Flüchtige und Imaginäre – nicht das Feste und Bleibende. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich vor allem am Teilen eines offenen Prozesses interessiert bin als an einem Endpunkt oder dem Zeigen eines Artefakts im Ausstellungsraum.

Lammert: Wobei man fairerweise sagen muss: Jede Ausstellung ist ephemer.

Schillig: Ja, in gewisser Weise. Wenn man überlegt, wie man Entstandenes in einer Ausstellung zeigt und räumlich in Beziehung zueinander setzt, dann ist es auch immer ein Nachdenken über Konstellationen und ein Erschließen neuer Bedeutungsebenen. Es ist fast so, als ob man ein Buch macht, nur etwas komplexer, vernetzt in
Raum und Zeit.

Lammert: Ich glaube, es gibt zwei Arbeitstypen. Die einen arbeiten für eine Ausstellung und die anderen arrangieren etwas, was in ihrem Arbeitsverlauf entsteht, in Zusammenhänge. Das kommt nicht immer aus demselben Impuls, und es ist auch nicht die dieselbe Vorgehensweise.
Das gilt auch, wenn ein Kurator kuratiert. Der Charakter einer Ausstellung wird auch durch den Ort bestimmt. Ich habe gerade eine Ausstellung eröffnet, die sich auf meine Sammeltätigkeit von französischen Zeichnungen um die Französische Revolution bezieht, kombiniert mit eigenen Arbeiten. Einfach, weil ich das dringende Bedürfnis
hatte, mal etwas anderes zu machen. Der entscheidende Punkt ist: Ich möchte mich nicht langweilen. Man arbeitet in seinem Atelier, allein, sehnt sich nach sozialem Kontakt, oder man will das, was man tut, in ein soziales Leben integrieren. Deshalb ist auch die Breite der Tätigkeiten wichtig für mich – auch für die Bühne oder in Kooperationen
zu arbeiten. Und das ist auch eine Frage der Nützlichkeit. Sich nicht langweilen wollen ist eine Frage der Nützlichkeit.

Nehmen Sie Ihre Arbeiten anders wahr, wenn Sie sie in einen anderen Kontext stellen?

Schillig: Meine Arbeiten sind oft performativ angelegt, d. h., sie sind meist angewiesen auf jemanden, der sie aktiviert oder „benutzt“.
Mich interessiert der Moment, in dem ich jemandem ein Objekt oder eine räumliche Struktur „übergebe“ und die Person sich den Raum aneignet und damit interagiert. Es gibt selten von vornherein feste Choreografien, es ist vielmehr ein neugieriges Erkunden, eine geteilte Autor*innenschaft. Ich selbst nehme gern die Beobachterinnenperspektive
ein und bleibe dabei eher im Hintergrund. Vielleicht mag ich auch deshalb das Ausstellen nicht so gern. Wenn ich hingegen eine Arbeit als Erkundungsprozess teile, lernen ich und mein Gegenüber etwas Neues daraus. Es ist die Erfahrung und die Perspektive eines anderen Menschen oder eines anderen Körpers und das In-Beziehung-Setzen zum Raum, das mich dabei interessiert. Auch durch Architektur kann Interaktion und Kommunikation gestaltet werden – sie erzeugt oder verhindert sie. Ausstellen wird oft als ein Endpunkt eines Prozesses angesehen – das Projekt ist abgeschlossen, jetzt zeige ich mein Werk. Für mich ist es eher ein kontinuierlicher Prozess, der nie beendet ist. Eine Ausstellung ist nur der eine Punkt, an dem ich mich gerade befinde und den ich öffentlich mache, dann aber wieder ins Atelier oder an einen anderen Ort gehe und weiterarbeite.

Lammert: Worüber wir hier sprechen, ist der komplizierteste Prozess, den es eigentlich gibt. Die Kontrolle der Kontrolle. Und Kontrolle über Kontrolle der Kontrolle bekommt man nicht ohne Freiraum hin. Sonst macht es keinen Sinn. Es ist der größte Freiraum, den man erringen kann. Ich rede jetzt nur von der Selbstkontrolle. Wenn man in der Lage ist, auf einer Ebene darüber zu kontrollieren, dann fängt es erst an, wirklich spannend zu werden. Und ich glaube, das ist der Punkt, der weniger mit Lebensalter zu tun hat, sondern mit der Fähigkeit, sich selbst gegenüber distanziert zu sein. Es gibt z. B. irrsinnig gute Schauspieler, die neben sich stehen können. Sie haben diesen Punkt erreicht. Es gibt so was sicherlich auch bei bildenden Künstlern.
Ich kann mir sogar vorstellen, dass es das bei allen gibt, die Formen kreieren, verwalten, übernehmen, kombinieren. Das ist etwas, was man langsam oder auch schnell lernen kann. Aber lernen muss, weil man sonst über ein bestimmtes Spiellevel vor sich selbst nicht drüberkommt.
Das hat nichts mit Anerkennung oder äußerer Wahrnehmung zu tun, sondern das ist das eigentliche Ego. Wie kontrolliert man sein Ego? Wie kontrolliert man seine Vorurteile, damit sie keine bleiben?

Schillig: Ich überlege gerade, was die Kontrolle der Kontrolle genau bedeutet. Vielleicht geht es auch um die Unkontrollierbarkeit der Kontrolle. Ich mag es, wenn der Prozess instabil und gleichzeitig strukturiert ist. Wenn es darum geht, etwas in Form zu bringen, ist es ein Spiel zwischen dem Unerwarteten, dem Zufälligen und zwischen
Struktur und Kontrolle. Ich arbeite viel mit weichen Materialien und gleichzeitig mit Geometrie und Form. Durch die Weichheit der Materialität
löst sich die Form auf, verflüchtigt sich, wird organisch und lebendig. Ich bin neugierig auf den Moment, in dem etwas entsteht, was nicht so richtig greifbar ist. Es ist schwierig, direkt zu diesem Zeitpunkt konkret zu formulieren, was es eigentlich ist, was mich an einer Arbeit interessiert. Oft, erst sehr viel später im weiteren Prozess des
Recherchierens und Experimentierens, verstehe ich: Genau das habe ich eigentlich damit gemeint – und ein neuer Raum erschließt sich.

Lammert: Es gibt einen tollen Text von García Lorca über New York und da gibt es einen Satz, der wird oft geklaut und ohne die Quelle zitiert: „New York besteht aus Angst und Geometrie.“ Ich glaube, das ist genau der Punkt, an dem etwas Spontanes aus der Angst heraus, dass es die Form sprengen oder verlieren könnte, mit der Geometrie
in Verbindung tritt. Dann entsteht so etwas. Das meine ich mit Kontrolle der Kontrolle. Diese Formulierung ist noch immer die demütigste und gleichzeitig auch die mutigste.

Schillig: Was bedeutet es, wenn eine künstlerische Arbeit nur für den Moment existiert, in dem sie benutzt wird und nicht als Artefakt? Was macht sie dann mit der Erfahrung des Menschen, der sie benutzt oder einem Publikum, das zu aktiven Akteur*innen und Co-Produzierenden wird? Vielleicht ist es das, was mich interessiert: die Frage, wie
durch räumliche Strukturen Kommunikation im Raum gestaltet wird. Ich habe auch erst viel später verstanden, wieso ich von der Architektur über den Körper zum Kommunikationsdesign und zur Visuellen Kommunikation gekommen bin. Die Gestaltung einer Ausstellung ist ähnlich wie Architektur eine Form der Kommunikation im Raum.

Lammert: Und keine Kommunikation kann man denken ohne Kommunikationsverweigerung. Sonst wird es keine Kommunikation.

Schillig: Vielleicht geht es um eine Art strukturierten Kontrollverlust.

Lammert: Im Grunde genommen ist Kontrolle ein Wort für Bewusstsein: Bewusstsein einschalten, Bewusstsein ausschalten. Und wenn man arbeitet und ein gutes Ergebnis will, muss man auch diesen „Dumm-Schalter“ anmachen. Ich finde es phänomenal, dass Kontrolle meistens nur im Zusammenhang steht mit Erziehung, Strafe, Beschränkung.
Es gibt auch positiv besetzte Kontrolle, z. B. ein Kind schützende, notwendige Kontrolle. Ich habe noch nichts gefunden, was das irgendwie ersetzen kann. Oder: Wie leben wir zusammen, wie gehen wir miteinander um? Regeln und Moral sind eine positive Form der Kontrolle, die eine Gesellschaft zusammenhält, oder auch die Selbstkontrolle des Einzelnen.

Quelle: Gabi Schillig, Soh Souen, 2024

Was ist das Gegenteil von Kontrolle?

Schillig: Für mich ist es vielleicht der Zufall oder das Unerwartete. Ich weiß nicht, ob das tatsächlich die richtigen Worte sind. Wenn man experimentiert oder versucht, etwas Neues zu erkunden, gibt es immer Lücken, in denen man bereit ist, die Kontrolle auf- oder abzugeben.
Das passiert vor allem im Atelier, oder an Orten, in denen man unbeobachtet ist, also in Situationen, in denen Dinge auch – ohne direkte (Be-)Wertung – passieren dürfen. Das wirklich Neue entsteht erst dort, wo die Kontrolle verschwindet und dem Zufall, dem Fehler oder dem Unerwarteten Raum gegeben wird. Wenn z. B. in der analogen Fotografie
durch einen Fehler das Bild anders entwickelt wird als erwartet, kann Neues sichtbar werden. Diese Art von hybridem spielerischem und strukturiertem experimentellen Prozess, auch in der Arbeit mit den Studierenden, fasziniert mich. Vielleicht ist es auch das, was ich als methodische Herangehensweise aus meiner eigenen künstlerischen Arbeit in die Lehre übertrage: zwischen Struktur und Zufall auch auf die eigene Intuition zu vertrauen und instabilen Wegen zu folgen. Letztlich bedeutet das zu „studieren“, sich gleichzeitig strukturiert
und spielerisch zwischen Gedanken und Experimenten zu bewegen, die das Offene, das Zufällige und das Unkontrollierte zulassen.

Lammert: Und der „Dumm-Schalter“ ist im Grunde eine Kombination aus genau diesem Zufall und einer schwer herzustellenden Entspannung, die nicht zu verwechseln ist mit Lässigkeit. Das ist, glaube ich, auch in der Lehre immer der schwierige Punkt.

Schillig: Den Studierenden gelingt es mit der Zeit, sich auf diesen instabilen Prozess einzulassen, auf das Experimentelle und Offene in ihrem eigenen Gestaltungsprozess. Wenn man offen und neugierig ist, sich unbekannte Werkzeuge und neue Fertigkeiten aneignet und diese anwenden kann, dann entsteht Freiheit. So empfinde ich es
auch in meiner eigenen künstlerischen Arbeit. Aber es ist immer wieder ein Ringen mit sich selbst – oft genug merkt man, dass man in den eigenen Konventionen gefangen ist. Und dann weiß ich: Ich brauche wieder Instabilität – eine Art weiches Geländer, an dem ich mich festhalten kann.

Sie entdecken es plötzlich, Ihre Intuition führt Sie irgendwohin?

Schillig: Bei mir entsteht viel über das Experiment mit Materialität und Körper – das Material (oder ein Körper) reagiert nicht so, wie man es gern hätte oder erwarten würde; oder ein kleines Modell verhält sich in großer Dimension plötzlich ganz anders. Hinzu kommt die Person, mit der ich zusammenarbeite und mit der ich in einen Dialog trete. Sie kommt vielleicht nicht zurecht mit dem Material oder hat eine andere Art, es zu lesen. Und dann entsteht etwas Neues. Das genaue Beobachten, das aufmerksame Zuhören ist essenziell für meinen
künstlerischen Prozess.

Lammert: Es geht ja auch ein bisschen um die Kontrolle der Idee. Wenn man Leichtigkeit und Intuition hat, fängt der Prozess an. Der Prozess aber, der zur Idee führt, ist nicht der Prozess, der die Idee realisiert. Es ist ein sehr verbreiteter Irrtum, dass am Anfang die Idee steht. Picasso sagt, jede gute Idee muss man „telefonieren“ können. D. h., sie muss
so einfach sein, dass sie schnell vermittelbar ist. Ich habe mal die Gelegenheit gehabt, in Griechenland in Epidauros einen Raum zu machen für eine Inszenierung des ältesten Stückes, das es gibt, „Die Perser“ von Aischylos. Nach langem Überlegen hatte ich eine Idee. Ich war natürlich auf Helfer angewiesen und musste mich darauf verlassen, gut „weitergereicht“ zu werden. So kam ich zu einem Schlosser, der nur Griechisch sprach. Er konnte aber zeichnen und wir haben uns in die Kneipe gesetzt, und ich habe ihm meine Idee erklärt. Es ging um eine Wand, die musste aus Stahl sein, gute acht Meter hoch, fast vier Meter breit und sechzig Zentimeter tief. Sie musste sich drehen können und
stabil sein. Nach anderthalb Stunden wusste ich, die Wand wird stehen, sie stürzt nicht um und erschlägt niemanden. Die Inszenierung ist dann durch Griechenland getourt, war in allen noch bespielbaren alten Amphitheatern. Das war eine der problemlosesten Arbeiten, die ich im öffentlichen Sektor je machen konnte – mit einem Mann, mit dem ich mich nie verbal verständigt habe. Wir haben uns in die Augen geschaut. Er mochte mich. Ich mochte ihn. Und er hat alles verstanden. Das ist für mich immer noch ein Wunder. Und das ist, z. B., auch Zufall.

Schillig: Diese Begegnungen und besonderen Situationen kenne ich. Wie entsteht dieser Dialog? Ist die Idee überhaupt kontrollierbar? Es kann auch sein, dass eine Person, mit der man zusammenarbeitet, eine spezifische Idee hat und will, dass es genau so am Ende werden soll. Mir selbst gelingt es nicht, von hinten anzufangen. Für mich ist es eher so, als ob ich mich in einer weichen, offenen Wolke befinde. Es gibt ein bestimmtes Interesse, vielleicht eine Frage, und dann finde ich da etwas und dort etwas und bewege mich hindurch. Und dann beginne ich an einer Stelle tiefer einzutauchen und reichere es an mit dem, was mir auf dem Weg begegnet oder nach dem ich suche. Es ist ein fluides Gedankenkonstrukt, ein plastisch-veränderbares Gebilde. Es folgen Recherchen, Beobachtungen und Experimente. Der Prozess läuft immer so ab. An einem Punkt entscheide ich mich dann für eine Form, die sich aber vielleicht noch einmal mit dem Material und dem Körper weiter verändert. Für einige ist es schwierig, sich auf diesen Weg einzulassen und ihn mitzugehen, ohne zu wissen, wo man landet.

Vollkommen offen für das Ergebnis.

Schillig: Das experimentelle Bühnenbild, das ich für die Arbeit „Accento – Die Stadt im Klavier VI“ mit Yui Kawaguchi und Aki Takase, einer japanischen Komponistin und Jazz-Pianistin, im Dezember 2022 für die Kuppelhalle im Silent Green entwickelt habe, bestand aus performativen, weichen Architekturen, die sich ständig veränderten. Der gesamte Entwurfsprozess war ein offener Dialog zwischen Körper, Klang und Raum und weichen architektonischen Objekten. Es gab zu Beginn weder die Musik-Komposition noch die Objekte noch eine
feste Choreografie. Es gab unterschiedliche Ausgangspunkte und ein Sich-aufeinander-zu-Bewegen. Es war ein spielerischer Entwicklungsprozess, leicht und offen, der sich so gar nicht nach Kontrolle anfühlte.

Lammert: Kontrolle darf man eh nie spüren. Das ist dann die höchste Form der Kontrolle!

Schillig: Das Schöne ist ja genau das, was Sie vorhin mit dem griechischen Schlosser beschrieben haben. So ist z. B. auch meine Erfahrung in Japan gewesen, wo ich mit Künstler*innen zusammengearbeitet habe, die eine vollkommen andere Sprache sprechen. Und dass dann überhaupt Kommunikation möglich ist, auf Basis von künstlerischen Prozessen und einem ergebnisoffenen Experimentieren, ist etwas sehr Besonderes und nur schwer zu erklären.

Sie haben Ihre Arbeit nicht erklären müssen, es gab einen gemeinsamen Kommunikationsraum …

Schillig: … und einen gemeinsamen Imaginationsraum, in dem alles möglich ist. Einen Raum, in dem die Idee nicht bewertet wird als gut oder schlecht, sondern in dem man neugierig sein kann auf etwas, was sein könnte, aber auch nicht sein muss.

Kann Sprache ein Hemmnis sein?

Schillig: Ich finde manchmal ja. Wenn man z. B. spricht oder schreibt, wird der gedankliche Prozess oftmals linear gefasst. Natürlich ist es auch wichtig, Gedanken zu sortieren. Aber dann kann man nicht mehr in einer Wolke sein, in der sich, wie in einem Netzwerk, vieles gleichzeitig miteinander verbindet. Die Struktur einer Sprache wirkt da wie ein Hindernis. An manchen Stellen des künstlerischen Denkens kann das schon zu fest sein.

Lammert: Ich glaube, es ist auch eine Frage der Vereinbarung. Sprache ist eine Vereinbarung. Wer aber hat diese Vereinbarung getroffen? Und bin ich an diese Vereinbarung gebunden? Es gibt Menschen, die denken mit den Augen, Augenmenschen – sogar neurologische Belege dafür gibt es – es sind nur 5 %. Man kann nur hoffen, sie finden
sich auch an Kunsthochschulen … Weil das eine große Toleranz bedeutet. Sprache, auf der anderen Seite, bindet und verbindet die Gedanken, so flatterhaft sie auch sind. Aber – die einzig denkbare Antwort auf die Frage, warum man eine Ausstellung oder einen Raum so oder so gestaltet hat, ist: „Das sieht man doch!“ Dass jede Erklärung zur Kategorie wird, ist ein bedauernswerter Zustand. Und es ist eine große Einschränkung und damit ein ernsthaftes Problem. Eine Bewertung produziert so etwas, was man Mainstream oder hohe Reaktionsfrequenz nennen könnte. Das kann bedeuten, dass nur einer recht hat.

Schillig: Ich glaube auch, dass man manchmal für bestimmte Dinge noch gar keine Worte hat …

Lammert: … und man darf sie auch gar nicht haben, sonst ist man erledigt. Das muss man beschützen!

Schillig: Und dann gibt es die Momente, in denen man etwas anschaut oder liest und plötzlich erkennt man die Verbindungen und kann die Idee formulieren oder sie zusammenweben. Im künstlerischen Prozess muss das sehr offen sein – das ist essenziell.

Lammert: Das Sprengen der Methode, das ist unser Privileg als Künstler; an den Bücherschrank gehen, zufällig ein Buch rausziehen und zufällig die richtige Seite aufschlagen. Auch diesen Freiraum muss man unbedingt verteidigen. Wir können aus dem Nichts auf einen Satz stoßen, der Türen öffnet. Das kann einem Wissenschaftler natürlich auch passieren, aber er hat eher eine methodische Vorgehensweise, eine Vereinbarung, eine andere Art des Findens. Ich finde es wichtig, dass die Vorgehensweise in den Künsten selbstkontrolliert bleibt und nicht kontrolliert wird. Das ist das Privileg.

Schillig: Fragmente zusammenbringen, intuitiv, spielerisch und strukturiert – Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören. Etwas finden und eintauchen können, um dann wieder davon wegzugehen und sich später wieder anzunähern. Eine Art hybrides Denken, nomadisches Denken …

 

Gabi Schillig ist Gestalterin und Professorin für Raumbezogenes Entwerfen und Ausstellungsgestaltung.
www.gabischillig.de
Mark Lammert ist Bildender Künstler und Professor für Malerei. Die Ausstellung „Revolutionssplitter. Mark Lammert – Zeichnung und Sammlung“ ist bis 21. Januar in der Galerie Pankow zu sehen.
www.marklammert.de
Gespräch: Claudia Assmann, Marina Dafova + Text *Bild Seite 8: Gabi Schillig, Soh Souen, „Do You Think Something Soft Can Protect Something? Exploration #1 – On Resilience“, 2024