Für das journal 12 traf die Klasse Streuli ihre Professorin zum Gespräch

Wir, die Studierenden, treffen Christine Streuli am 1. Dezember, verabredet sind wir online. Sie sitzt in ihrem Atelier im Wedding, wir sind in Raum 228 in der Hardenbergstraße 33.

 

Danke, dass du dieses Interview mit uns führst, Christine. Wir haben in der Klasse Fragen an dich gesammelt und fangen jetzt einfach mal an … Wenn Künstlerin als Beruf nicht geklappt hätte, was wärst du dann geworden? 

Mir war relativ früh klar, als ich noch sehr jung war, dass ich Künstlerin bin. Ich habe das tatsächlich nie hinterfragt und hatte sehr früh das Kunststudium im Sinn. Wenn das nicht geklappt hätte, dann hätte ich vermutlich ein Handwerk gelernt.

 

Wie war deine finanzielle Situation während des Studiums? 

Ich bin mit 20 von Zuhause ausgezogen und habe in Zürich das Kunststudium begonnen. Meine Eltern wollten mich finanziell unterstützen, für mich war es aber wichtig zu versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich wollte unabhängig und frei sein, wollte mich vom Elternhaus loslösen. Ende der 1990er Jahre gab es in Zürich eine sehr große, vitale und internationale Galerien-Szene. Das Löwenbräu-Areal wurde gegründet, und die alte, umgebaute Bierbrauerei wurde zum Standort vieler interessanter und einflussreicher Galerien. Auch die Galerien Hauser und Wirth und Eva Presenhuber hatten ihre Räumlichkeiten dort. Viele dieser heute sehr großen und globalen Galerien haben in den 1990ern ihr Unternehmen gestartet. Ich habe während meines Studiums als Technikerin bei Hauser und Wirth gearbeitet, habe Ausstellungen auf- und abgebaut und große Wandbilder für Künstler*innen erstellt. Damit habe ich gutes Geld verdient. Und als Studentin habe ich sowieso immer in WGs und sehr bescheiden gelebt, das Geld von diesem Job hat komplett ausgereicht.

 

Wie war für dich der Übergang vom Studium auf den Arbeitsmarkt bzw. Kunstmarkt als freischaffende Künstlerin? 

Ich habe 2001 in Zürich meinen Abschluss gemacht und für meine Abschlussarbeit ein Stipendium erhalten. Das hat mir ein weiteres Studienjahr im Ausland finanziert. Ich durfte auswählen, wohin ich gehen wollte. Dementsprechend hatte ich einen sehr glücklichen und gesicherten Start als freischaffende Künstlerin. Unmittelbar nach dem Abschluss in Zürich bin ich nach New York umgesiedelt und habe mit dem ISCP (International Studio & Curatorial Program) begonnen. Ein Jahr habe ich in einem Atelier am ISCP gearbeitet und bin nach diesen zwölf Monaten noch ein weiteres Jahr in New York geblieben. Um Geld zu verdienen habe ich Babysitting gemacht und bei einem Bio-Bauern am Farmer‘s Market am Union Square Eier verkauft. Mein Zürcher Galerist Mark Müller ist schon während meines Studiums auf mich aufmerksam geworden, durch diverse Klassenausstellungen. Er hat sich in dieser Zeit bei mir gemeldet und wollte mich kennenlernen und Arbeiten sehen. Mit 23 Jahren arbeitete ich also ziemlich früh mit einer Galerie zusammen. Auf die Zusammenarbeit mit Müller folgte dann nahtlos eine mit der Galeristin Andrée Sfeir-Semler, Hamburg und Beirut. So kam es, dass ich schon früh über meine Galerien hin und wieder Arbeiten verkaufen konnte. So ging die ganze rasante Geschichte los. Nach zwei Jahren in New York habe ich mich bei einer Kulturstiftung für ein Atelier-Stipendium in Äqypten beworben und für ein Jahr einen Atelierplatz in Kairo bekommen. Das war 2003. danach folgten Atelierstipendien in Düsseldorf, San Francisco und London. So war ich 15 Jahre ununterbrochen unterwegs und am Koffer ein- und auspacken.

 

Wie ist es jetzt für dich, an einen Ort – Berlin – gebunden zu sein, mit einer Professur? 

Diese Frage treibt mich sehr um. Ich bin mit 40 Jahren Professorin geworden, und habe dafür das allererste Mal in meinem Leben einen Vertrag unterschrieben. Ich hatte leichte Panik, mich zu so etwas Verbindlichem zu verpflichten. Das war am Anfang sehr ungewohnt, neu. Zu dieser Zeit lebte ich in einer offenen Situation, kurz nachdem ich aus London zurückgekehrt war. Ich habe mich gefragt, wo ich nun hinziehen will, wo ich eigentlich hingehöre, wo ich es längerfristig aushalten könnte.  Die Schweiz war für mich keine Option mehr. Mein Atelier und die Verpflichtungen wurden immer größer, und eines Tages hatte all mein Material nicht mehr in einem Koffer oder in ein paar Kisten Platz. Ich hatte plötzlich eigene Möbelstücke, und es war nicht mehr so einfach von einem Tag auf den anderen abzuhauen. Das war ungefähr zeitgleich mit meinem Start in der Lehre und mit meiner Zusage an die UdK Berlin, wo ich übrigens die Hälfte meines Studiums schon studiert und gelebt hatte. Heute darf ich zufrieden feststellen, dass die Lehre eine angenehme Ruhe und Struktur in mein Leben bringt. Ich baue mir hier vor Ort etwas Solides auf, weil ich vermute, dass ich erstmal bleiben werde und nicht wegrenne. Das bringt auf der einen Seite Entspannung, auf der anderen Seite hat meine Arbeit immer davon gelebt, dass ich so unstet und flexibel war. Heute hier, morgen da. Das und die Unabhängigkeit hat meine künstlerische Arbeit sehr belebt: all die Eindrücke, Begegnungen, Bewegungen, das Weltgeschehen und die unterschiedlichsten Kulturen, die Menschen überall da, wo ich war und gelebt habe.

 

Was ist Malerei für dich, welche Funktion hat sie? 

Für mich war sie immer ein Mittel, mich und die Welt auszudrücken, zu reflektieren, ein Mittel über Fragen nachzudenken, die mich interessieren und bewegen. Das alles hat mit Energie zu tun, mit Anfassen und Anschauen, mit dem Blick, mit Vitalität, mit Bewusstsein, Anteilnahme und Verortung. Das kann ich am besten mit und durch die Malerei.

 

Was ist die Aufgabe der Kunst für die Gesellschaft? 

Aktuell leben wir in einer Zeit, in der Museen und Galerien wegen der Pandemie temporär geschlossen wurden, weil sie laut Politik zur „Unterhaltungsindustrie“ gehören. Wahnsinn! Ich glaube, dass die Kunst fähig ist, Fragen zu stellen, die nicht ausschließlich mit wissenschaftlichen Fragen zu tun haben. Ich glaube, dass Kunst Antworten oder Vorschläge genau dort generiert, wo die Sprache der Wissenschaft scheitert. Darüber möchte ich mehr herausfinden, über das „Nicht-Wissen“ in der Kunst. Ich glaube, dass das lebensnotwendige und für die Gesellschaft sehr wichtige Fragen sind. Ja, Kunst kann auf ihre ureigene Art und Weise aufklären, sie kann zeigen und erfinden. Sie kann aber eben auch das: eine klare Sprache des „Nicht-Wissens“ sprechen. 

 

Glaubst du, dass das Wissen bzw. Nicht-Wissen in unserer Generation anders ist als zum Beispiel in deiner?

Das „Nicht-Wissen“, von dem ich spreche, ist zeitlos, der Umgang damit ist das, was sich ändert. Ich glaube, dass es in jeder Generation andere Fragestellungen gibt, andere Vehemenzen. Wir beleuchten heute andere Probleme in der Welt, als noch vor 100, 50 oder 25 Jahren. Es wird oft darüber geredet, dass wir heute in einer krisenhaften Zeit leben. Ich aber glaube, der Mensch lebt seit jeher in der Krise, die Krisen sind nur immer anders. Deswegen wird es auch immer Kunst geben. Ich stelle mir hin und wieder die Frage, ob und wie eure Generation und weitere Generationen es überhaupt noch aushalten werden, etwas NICHT zu wissen.

 

Welche Krise wird unsere Krise sein? 

Die große Herausforderung für euch ist, mit einer konstanten Überforderung umgehen zu müssen. Diese Überforderung ist für uns alle eine große Herausforderung. Wir werden mit Bildern und Informationen überschüttet und konfrontiert und sind dadurch immerzu im Vergleich und in der Selbstreflexion. Das empfinde ich als sehr ungesund und geradezu bedrohlich. Die neuen Medien, die ewige Vernetzung und rastlose Kommunikation, dieses konstante „Sich-Vergleichen“ und „In-Verbindung-setzen … Ich glaube, das ist eure größte Herausforderung; damit zu leben und überhaupt irgendeine Konzentration auf das Wesentliche zu finden. Oder aber: es zu ändern! Mir stellt sich die Frage, wie ihr ganz individuell, aber auch wie wir gesellschaftlich damit umgehen werden, als Menschen und als Künstler*innen. Damals, als ich studiert habe, war es tatsächlich anders. Effizienz oder Erfolg waren keine Begriffe unseres täglichen Vokabulars, und Social Media gab es noch nicht. Ich spüre diesen wahnsinnigen Druck, mit dem viele von euch kämpfen. Und nicht zu vergessen, seit einem Jahr nun schon haben wir eine Pandemie, und auch diese Krise ist längst nicht überstanden.

 

Unsere letzte Ausstellungs-Aktion trägt den Titel „Stell Dir vor es gibt Kunst, und keine*r sieht hin / Kunstwelt under construction.“ Schon der Titel allein bringt die aktuelle Krise zum Ausdruck.

Ja, ihr habt mit der Klassen-Ausstellung in der Baugrube einen temporären und sehr schlauen Ausweg aus dem Dilemma gefunden. Es ist euch mit dieser Aktion gelungen, genau die Probleme sichtbar und aussprechbar zu machen, mit denen wir momentan gezwungen sind umzugehen. Ihr studiert Kunst in Berlin und der Uni-Alltag wird von strikten Hygieneregeln und von der Angst der Ansteckungsgefahr dominiert. Der Unterricht findet seit Monaten fast ausschließlich online statt. Wir sind alle vom Bildschirm-Anstarren erschöpft. Auch die Prüfungen werden über den Computer abgehalten. Wie reden und zeigen wir Kunst, wenn wir sie nicht real betrachten, riechen und sinnlich, körperlich wahrnehmen können? Wie können wir als Klasse an einer Kunstakademie das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Anteilnahme entwickeln und einen kritischen Diskurs pflegen? Galerien und Museen sind zu. Konzerte und Theater ebenfalls. Vieles ist nicht mehr mit Sicherheit zu planen und zu genießen. Jobs entfallen, und wir isolieren uns. Distanzieren und isolieren uns die digitalen Tools nicht schon genug, auch ohne Coronavirus? Es geht darum, Alternativen zu suchen, reale und sichere Situationen zu schaffen, die doch noch das Eine oder das Andere in Präsenz ermöglichen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Selbstinitiative. Neuland betreten und Umdefinieren von Bekanntem. Die Baugrube wurde zum temporären Ausstellungsraum. Das „Hier und Jetzt“ fühlen, für einen kurzen Moment, und danach war alles wieder vorbei. Ihr habt eure Arbeiten gehängt, gestellt, gebeamt … Niemand außer euch hat die Ausstellung gesehen. Völlig egal! Es wurden Fotos davon gemacht, und ihr habt gemeinsam und solidarisch eine Nacht zusammen verbracht und Kunst gemacht, euch gesehen, diskutiert und gelacht. Das verbindet! Daraus erwächst Energie und Erneuerung, keine Depression, keine Resignation.

 

Wir selbst könnten oft nicht beurteilen, was genau für uns die Krise ist. Oft haben Menschen von außen einen besseren Blick darauf, was jetzt gerade unser Problem sein könnte. Was ist für dich der Unterschied zwischen unseren „Problemen“ und euren? 

Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass „eure Probleme“ auch „unsere Probleme“ sind. Klar wird von jungen Menschen erwartet, dass sie innovative, frische, kreative Ansätze und Lösungen für aktuelle Krisen finden. Aber wir alle sind herausgefordert, das „Hier und Jetzt“ zu verhandeln und eine Haltung dazu einzunehmen. Ich komme noch einmal darauf zurück, entschuldigt diesen abgegriffenen Begriff, aber die Bilder- und Informationsflut, mit der wir heute global umgehen müssen, ist enorm. Nicht nur diese Flut, auch die explosionsartige Geburtenrate, Migration, Klimawandel, Hungersnöte, Kriege, Armut, Korruption, Überalterung etc. Wir kriegen das komplette Geschehen ununterbrochen und immerzu über alle Kanäle mit. Dazu muss man sich überhaupt einmal verhalten und eine Haltung einnehmen können. Auch zu den Sozialen Medien und dem damit verbundenen Dilemma von Manipulation, Missbrauch, Fake News, Sucht, Übergriff, Einsamkeit, Ignoranz, Distanz, Überwachung … Ich hatte als Studentin noch kein Handy und auch keinen Computer. Niemand hatte damals ein Handy. Stellt euch vor: Ich habe damals nur einmal pro Woche im Computerraum der HdK meine E-Mails gecheckt. Heute wäre das unvorstellbar. Ich war einfach konzentriert bei einer Sache und nicht andauernd von Bewegungen auf meinem Handy und meinem Verhalten dazu abgelenkt. Lasst uns über Ablenkung und Überforderung reden. Sie generieren neue, brisante Situationen und Fragen. Es geht mir nicht um eine Wertung. Es geht um die Frage, was und wie sich etwas verändert, und es geht auch darum herauszufinden, wie weit wir das alles mitmachen. Was wir mit uns machen lassen. Und ob wir dabei überhaupt noch handlungs- und entscheidungsfähig oder -unfähig sind.

 

Christine, du hast von Ablenkung gesprochen. Wie gehst du mit der Frage um, ob es eine Trennung zwischen Kunst und Leben gibt? 

Ich trenne das natürlich nicht, ich bin in jeder Minute Künstlerin. Alles was ich tue und denke, verbinde ich immerzu mit meiner künstlerischen Arbeit. Lesen, Filme schauen, Begegnungen, Beziehungen... Ich webe alles in mein künstlerisches Sein und Tun ein. Für mich gehört das alles zum Leben und zum „Über-das-Leben-Nachdenken“. Es gibt für mich keine Trennung und keinen anderen Weg, Kunst zu machen. Es ist ein nahtloses „Ich-Sein“ oder vielmehr ein „Ich-Werden“. 

 

Kann das auch zum Problem werden, dass du nie eine Pause von der Kunst hast? 

Ich kann sehen und mich daran erinnern, was ich bis heute alles gelebt und erlebt habe. Und wenn ich mir überlege, was ich alles nicht getan und nicht erreicht habe, dann stelle ich mir hin und wieder die Frage, wieso ich welche Entscheidung getroffen habe. Welche Wege ich in meinem Leben auch hätte gehen können. Wo die Trauer darüber einsetzt, wo die Erleichterung. Obwohl ich liebe, was ich tue, gibt es Momente, da bin ich traurig über mich und meine Entscheidungen, die immerzu nur für die Kunst gefällt wurden. Ich weiß schlussendlich einfach nicht, wie mein Leben außerhalb der Kunst gelebt werden könnte. Das Leben mit der Kunst war bis jetzt immer intensiv und zwingend, so dass es schlichtweg keine Alternativen gab.

 

Wo du gerade von Vermischung sprichst: Würdest du trotzdem sagen, dass du eine Art Konzept hast, von der ersten Idee zu einer fertigen Arbeit zu kommen? 

Meine Malerei ist ein weiter, endloser Prozess. Es ist nicht so, dass ich etwas anfange und dann abschließe. Meine Malerei ist eine konzeptuelle Malerei, keine rein intuitive, es geht um den Prozess und um die Auseinandersetzung damit. Das heißt nicht, dass ich 24 Stunden lang mit dem Pinsel in der Hand im Atelier stehe. Wenn ich an etwas dran bin, dann ist das ein kontinuierliches Handeln, Reflektieren und Betrachten. Dieser Denk- und Betrachtungsprozess generiert immer neue Ansätze für die jeweilige Arbeit und auch für weitere Arbeiten. Seit 2001 ist es ein nahtloses Nachdenken und Anschauen von Malerei. Es gibt keinen Anfang und kein Ende.

 

Also hast du nie kreative Tiefpunkte?

Natürlich gibt es Tiefpunkte und Krisen. Es gibt Phasen, in denen ich überhaupt nicht inspiriert, wach und offen bin. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in solchen Zeiten gut ist, trotzdem ins Atelier zu gehen, auch wenn nichts Interessantes oder gar nur Müll dabei herauskommt. Wie gesagt, das ist im Großen und Ganzen gesprochen. Es gibt Wochen, in denen ich nicht regelmäßig ins Atelier gehe, weil ich einfach blockiert und leer bin. Je älter ich werde, sind diese Blockaden je doch einfacher auszuhalten, weil ich mittlerweile einfach weiß, dass sich Verstopfungen wieder lösen. Auch diese Zeiten muss man aushalten können.

 

Was hältst Du davon, Kunst auf Instagram zu präsentieren, dort Connections zu machen und von der Notwendigkeit, sich medial zu vernetzen? 

Ich beobachte das, und ich höre von Erfolgsgeschichten, von Kunstverkäufen über Instagram, von Vernetzungen und viralen Abgängen etc. Aber ich nehme auch den Druck und die Verunsicherung wahr, die Depressionen. Ich finde, dass wir alle Social Media boykottieren sollten. Sie machen uns süchtig, wir werden damit schamlos überwacht und ver- und ausgewertet, und niemand von denen, die das tun und damit auch noch steinreich werden, nimmt Rücksicht auf unsere psychische Verfassung und Belastung. Die ethischen Fragen sind ungelöst und stellen ein riesiges und wachsendes Problem dar.

Ich habe kein Account bei Facebook oder Instagram. Mich stresst das zu sehr, allein das Smartphone bringt eine wachsende Unruhe in mein Leben. Ich kann und möchte mit dem verlogenen Positivismus, der Dauerberieselung und dem Geltungs-Durchfall anderer nicht umgehen. Es nimmt viel zu viel Zeit und zu viel Aufmerksamkeit in Anspruch. All diese Fotos, all diese „aufregenden“ Leben von den anderen, all diese Kommentare, die mich überhaupt nicht interessieren … Dieser Stress, regelmäßig tolle, schräge und geile Fotos aus meinem Leben zu posten oder zu kommentieren, ich kann das einfach nicht bedienen. Das ist nicht meine Einstellung zum Leben. Dafür interessiert mich die Langeweile doch zu sehr. Ich will auch nicht immer und alles teilen! Das ist nicht meine Philosophie. Ich habe ein großes Bedürfnis nach Privatsphäre, nach Diskussion und nach Kompromissen. Ich habe das Handy sowieso schon immer dabei und bin immerzu erreichbar, schon diese Tatsache ist komplett gaga! Ich habe das Bedürfnis nach Geheimnissen und finde es auch sehr anziehend, wenn ich auf Menschen treffe, die auch Geheimnisse haben und nicht alles mitteilen und kommentieren. Wobei wir damit bei der Erotik des „Nicht-Wissens“ angekommen sind.

 

Noch mal zur Privatsphäre: Ist es für dich nicht schwer, überhaupt eine zu haben? Weil man ja ständig und immer sich selbst durch seine Kunst preisgibt? 

Das stört mich nicht. Meistens wird über die Kunstwerke auch über Privates gefragt. Das finde ich angenehm verschlüsselt und interessant. Via Kunstwerke gebe ich natürlich etwas von mir preis, vor allem auch dann, wenn ich darüber rede. Wie auch jetzt in diesem Gespräch. Ich wünsche mir reale Begegnungen, menschliche Anteilnahme. Und vor allem möchte ich mit meinem Gegenüber verhandeln. Bei den Sozialen Medien wird nichts verhandelt, da wird isoliert etwas gepostet und behauptet, ob wahr oder falsch, und die Reaktion darauf ist nicht ausschlaggebend, vermeintlich nicht wichtig. Was mich am Menschsein interessiert, ist die Auseinandersetzung und die Berührung in jeglicher Form und Bedeutung des Wortes.

 

Hast Du trotzdem darauf geachtet, Dich zu vernetzen?

Die Vernetzung lief in den 1990er und 2000er Jahre ganz anders: Es ging um reale, körperliche Präsenz. Die diversen Galerie- und Offspace-Szenen sind weltweit explodiert, es kamen immer neue dazu, in Zürich, Berlin, London, Paris … Kunstmessen sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Wir waren immerzu unterwegs, es gab Bars und Kneipen und Vernissagen, wo wir uns sehr regelmäßig trafen. Dort versammelten sich Kunststudent*innen, Kurator*innen und Galerist*innen. Man hat sich physisch getroffen, getanzt, getrunken. Am Ende meines Studiums habe ich gemerkt, dass genau das der Vorteil ist am Studieren. Das sage ich euch hier auch ganz bewusst: Als Student*in ist es viel einfacher, irgendwo anzurufen und zu sagen: „Hey, mein Name ist blablabla, ich studiere Kunst und ich bin total interessiert an blablabla, und ich würde gerne mal bei ihnen vorbeikommen und reden.“ Diese Direktheit und vielleicht auch Unerfahrenheit ist die Waffe und die Verführungskraft der Jugend. Ihr Studierenden solltet euch in den paar wenigen Jahren, die ihr zusammensteckt, intensiv miteinander auseinandersetzen, mit Zuneigung und ohne Ressentiment – nicht ausschließlich mit euch selbst oder mit virtuellen Leuten, die ein „potenzielles Netzwerk“ schaffen könnten. Das ist zu einsam.

 

Hast du Vorbilder? 

Nein, habe ich auch nie so direkt gehabt. Ich begegne aber immer wieder Menschen, bei denen ich Werke oder Gedanken sehr beeindruckend und inspirierend finde, von denen ich etwas lernen und übernehmen kann. Immer wieder neue und andere. Auch in der Kunst interessieren mich immer wieder neue Ansätze. Es gibt natürlich einige Positionen, die ich schon lange verfolge und gut finde.

 

Und was sind solche Positionen, die du schon länger verfolgst

Soll ich jetzt Namen nennen? Ich bin eine große Verehrerin von Philip Guston. Er war frühes Mitglied der abstrakten Expressionisten. Diese Bewegung und die Zeit interessiert mich sehr. Guston hat sich, wie ihr bestimmt wisst, von seinen Freunden losgelöst und ist vom abstrakten zum figurativen Maler geworden. Ich finde seine Biografie und die Konsequenz darin wahnsinnig bewegend und berührend. Guston hat seine künstlerische Entwicklung gnadenlos verfolgt, obwohl sich alle seine Freunde von ihm abgewandt haben. Der Komponist Morton Feldman, sein engster Freund zum Beispiel, hat sich nach Gustons Wandel bis zu seinem Tode geweigert, je wieder mit ihm zu sprechen. Eine einzigartige Biografie, und sein Œuvre ist etwas vom Besten in der Malerei überhaupt.

David Hockney hat mich lange interessiert, über ihn schreibe ich gerade einen Text. Bei ihm faszinierte mich schon früh dieser konsequente Optimismus, seine Schaffenskraft. Man könnte auch sagen dieses drastisch Oberflächliche, das einen doch immer wieder in die tiefsten Tiefen reißt. Seine kontinuierliche Arbeit am Blick und am Schauen und sein steter Versuch über eine Aussage, dass die Welt doch wunderschön sei. Dürfen wir das überhaupt behaupten? Autsch! Er tut es. Hockney ist ein Meister des Schauens und Einfrierens.
Und dann interessiert mich seit jeher auch das Leben und Werk von Louise Bourgeois. Und so weiter und so fort … es sind viele!

 

Kann man sagen, dass du von Konzentration fasziniert bist? 

Mitunter ja. Obwohl das Abdriften auch eine wichtige Rolle spielt. Der Begriff Konzentration ist mir zu streng. Aber bei zehn Wörtern wäre „Konzentration“ auf Platz eins der Liste. Wenn ich über wichtige Begrifflichkeiten nachdenke, spreche ich oft von „Energie“. Ich glaube, Kunst hat viel mit Energie zu tun. Energie kann sich in jeglicher Form äußern. Sie äußert sich nicht nur im Lauten und Heftigen. Energie existiert auch im Schweigen und im Nichtstun. Es geht um Entscheidungen. Irgendwo muss eine Energie fließen, wenn wir Kunst machen, auch in der Verweigerung steckt Energie. Wo wir bei einer meiner Lieblingsfiguren aus der Literatur sind: Bartleby!

 

Wie siehst du diese Figur?

Die Verweigerung als Entscheidung, die man durchaus für sein Leben treffen kann. Verweigerung bis zum Tode, einsam und radikal. „I would prefer not to“. Je länger er seine Entscheidung lebt, desto radikaler wird er. Bis sein ganzes Sein durchtränkt ist von dieser einen Entscheidung, von diesem einen Satz. Ich finde ihn sehr brisant, den Satz. Er ist eine Metapher für Vieles und stellt hochaktuelle Fragen und bietet auch Lösungen. Ich glaube, dass man sich als Künstler*in immer wieder entscheiden muss. Im Kleinen und im Großen. Es geht immer um Entscheidungen. Wir tun etwas oder wir lassen es. Sobald wir uns entscheiden, wird uns bewusst, dass wir die Konsequenz der Ablehnung der Alternativen tragen müssen. 

Schlussendlich sagt uns niemand, ob die Entscheidung die richtige oder die falsche war. Wir müssen lernen, zu unseren Entscheidungen zu stehen und sie zu leben und zu lieben. Ich finde diesen Roman wirklich großartig! Ich finde, alle sollte diesen Roman gelesen haben.  Vielleicht stellt sich hier auch die Frage nach den Grauzonen. Nach den Zwischentönen: Maximierung und Minimierung. Enthaltung und Verweigerung oder doch lieber Opulenz und die Überdosis? Wie mit dem Zustand der Ambivalenz umgehen? „Sowohl als auch“ oder „entweder oder“?

 

Was bedeutet Ausstellen für dich, wenn es möglich ist? 

Ausstellen ist für mich immer ein großes Experiment, eine Chance. Ich beschäftige mich viel mit raumspezifischen Fragen und daher ist es immer ein großer, wichtiger Moment, wenn Arbeiten mein Atelier verlassen und in andere Räume einziehen dürfen. Momente, in denen etwas gesehen und diskutiert werden kann. 

 

Bist du noch aufgeregt vor jeder Ausstellung? 

Ja, eigentlich schon. Eine gewisse Vorfreude und Lampenfieber verspüre ich immer. 

 

Wir haben ein paar Fragen, die wir gerne schnell und hintereinander stellen würden, du musst immer nur eine Antwort wählen. 

1. Was empfinden Sie als Eigentum? 

A) Was sie gekauft haben? B) Was sie erben? C) Was sie gemacht haben? 

Was ich gemacht habe.

Hoffen Sie angesichts der Weltlage

A)  … auf ein Wunder? B) … auf die Vernunft? C) … dass es weitergeht, wie bisher? 

Auf „Vernunft“ natürlich. Ich hoffe und hoffe und hoffe...

 Möchten Sie das absolute Gedächtnis?

Oh nein, das möchte ich nicht. Ich möchte auch nicht das absolute Musikgehör. Das ist mir zu einnehmend.

Was erfüllt Sie mit Hoffnung?

A) Die Natur B) Die Kunst C) Die Wissenschaft D) Die Geschichte der Menschheit.

Die Kunst.
Diese Fragen sind von Max Frisch, nicht wahr? Das kommt mit alles sehr bekannt vor. Ich habe letztes Jahr den „Fragebogen“ von Max Frisch nach 20 Jahren wieder einmal gelesen. Beim Thema „Liebe und Beziehung“ stellt er die folgende Frage: „Fürchten Sie sich auch vor intelligenten Lesbierinnen?“ Ich habe mich schlapp gelacht. Sehr aus der Zeit gefallen, irgendwie nicht gut gealtert, dieser Fragebogen. Also ja … Max Frisch … der alte Dürrenmatt war mir immer lieber…

 

Wie ist das eigentlich für dich, wenn wir dich auf einmal siezen bei solchen Fragen? 

Fühlt sich distanzierter an, aber auch verspielt. Ja, siezen wäre eine Option.

 

Gibt es Filme, bei denen du schnell weinen musst? 

Ich muss bei vielen Filmen weinen. Ich bin nah am Wasser gebaut, was Filme und Bücher angeht. Da könnte ich zahlreiche Beispiele nennen.

 

Gibt es ein Buch, das du uns empfehlen würdest?

Wir haben von „Bartleby der Schreiber“ von Herman Melville gesprochen. Dann gibt es noch einen Text, den ich sehr liebe, der mich seit unzähligen Jahren begleitet und den ich immer wieder lese: „The Crack“ von F. Scott Fitzgerald. Ein umwerfender, zeitloser Text. Mich interessiert bei ihm das Wechselspiel von Oberfläche und dem absoluten Abgrund. Die Zerrissenheit, der Zerfall. Der feine aber tiefe und ruinöse Kratzer an der perfekten Oberfläche. Ein genialer Schriftsteller, ein Alkoholiker, ein Süchtiger und Manisch-depressiver. Er hat ein intensives, explosives Leben mit seiner Ehefrau Zelda geführt. Ihr merkt, Biographien interessierten mich sehr; das Leben und seine Abhängigkeiten. Und kürzlich kam eine neue Biographie von Simone de Beauvoir heraus, „Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben“ von Kate Kirkpatrick, die solltet ihr auch lesen. Und „Ein Zimmer für mich allein“ von Virginia Woolf sowieso. Wichtig und aktueller denn je. Und Robert Walser und Gustave Flaubert und, und, und …