Sein Block / Brutalität der Lyrik -+-
Das Märkische Viertel in Berlin wird um die Jahrtausendwende elementarer Schauplatz Deutscher Hip-Hop-Geschichte. Hier, vor den Fassaden einer Wohnbauphilosophie des Architekten Werner Düttmann, tritt der Hip-Hoper Sido auf den Bildschirm und revolutioniert ein Genre.
Aber nun von vorn: Im Jahr 1962 beginnt die Sanierungsplanung des Märkischen Viertels unter der Leitung von Werner Düttmann, Hans Christian Müller und Georg Heinrichs auf den Reißbrettern 35 mitwirkender Architekten. Ihre Baumassen gliedern linear, punktuell, elliptisch, halbrund, geschlängelt oder sternförmig geschwungene Wege zu einer zentralen Agora. Es soll eine variantenreiche Stadtlandschaft mit hohem Identifikationsfaktor und überdurchschnittlichem Ausstattungsstandard entstehen. Das ist bemerkenswert angesichts der Eintönigkeit der gebauten Massen, die allesamt Schattierungen der gleichen Idee von Rationalisierung und Effektivierung, von Urbanität durch Dichte sind. Die folgenden Jahre sind geprägt von hetzerischen Reportagen der Tageszeitungen zu Bauverzögerungen und baulichen Mängeln. Das Viertel wird im Spiegel als „Musterbeispiel für asozialen Wohnungsbau“ gebrandmarkt.
Paul Würdig wird 1980 als Sohn eines deutschen Vaters und einer indischen Mutter geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern ziehen Paul und seine Mutter in den Senftenberger Ring im Märkischen Viertel. Er verbringt viel Zeit auf der Straße, kommt in Kontakt mit der Techno- und Hip-Hop-Szene Berlins. Vor dem Abitur verlässt Paul die Schule und bricht auch seine Ausbildung zum Erzieher ab. Seine Jugend verbringt er im Royal Bunker Café, ein Treffpunkt für junge Hip-Hoper, die auf der Bühne nach amerikanischen Vorbildern auf Englisch freestylen. Da das Englisch der meisten Jugendlichen nicht ausreicht, um fehlerfrei zu texten, schnoddert Paul bei jedem Stocken als Übergang „Scheiß in Dein Ohr“ ins Mikrofon. Im Royal Bunker Café trifft er Robert „Bobby“ Edward Davis, einen Jugendlichen aus Palm Springs, der im Märkischen Viertel wohnt. Bald kauft Bobby ein Vierspur-Deck und einen Magix Music Maker für die Playstation zum Aufnehmen gemeinsamer Tracks. Eine Spur sorgt für den Beat, den Paul und Bobby mit der Playstation herstellen, die restlichen drei Spuren stehen für den Rap zur Verfügung. Sie rappen Tag und Nacht, hängen in Pauls Zimmer ab und kiffen. Als Paul von seiner Mutter auf die Straße gesetzt wird, zieht er mit Bobby in eine dunkle, dreckige, billige Wohngemeinschaft in der Müllerstraße. Hier nehmen sie mit Freunden einen Track nach dem anderen auf, nebenbei läuft MTV. 1998, da ist Paul 18 Jahre alt, erscheint ihr erstes selbst aufgenommenes Tape Album Royal TS, ein Jahr später nehmen sie das zweite auf, Die Sekte. Die selbstgemachten Tapes der Szene werden vorrangig im Downstairs vertrieben, einem Hip-Hop-Laden in Schöneberg. Paul und Bobby gründen ein eigenes Tape-Label namens Sektenmuzik und bringen ihr drittes Tape raus – Back in Dissness. Sie werden immer gefragter in der Szene, Pauls Texte sind pointierte Geschichten, Chroniken voller Humor und einer großen Portion Ironie. Der Grafiker Specter und sein Kumpel Spaiche, ein Breakdancer, werden auf Die Sekte aufmerksam. Sie wollen Berlin zur Rap-Hauptstadt Deutschlands machen. Zu diesem Zeitpunkt prägt vor allem „Gymnasiastenrap“ von Fettes Brot, Fantastische Vier, Absolute Beginner und Rödelheim Hartreim Projekt aus Hamburg, Stuttgart und Frankfurt die Szene.
2001 geht das Label Aggro Berlin, bestehend aus Specter, Spaiche, Paul und Bobby sowie Halil vom Downstairs, an den Start. Ihre Namensfindung ist denkbar funktional: Auf der Labelliste von Groove Attack, dem größten Independent Label Vertrieb Deutschlands, möchten sie mit dem Anfangsbuchstaben A an oberster Stelle stehen. Sie diskutieren über Namen, bis einer von ihnen einwirft, er werde aggro von der Suche. Die Aggression als Hauptkomponente des Hip-Hop, als territoriale Aufplusterung, sagt ihnen sofort zu. Ihre erste Veröffentlichung erscheint unter dem Namen A.i.d.S. – Alles ist die Sekte. Das zugehörige Video drehen sie mit einem Studenten der UdK, es wird jedoch nie veröffentlicht.
Paul, mit seinen weichen Zügen, braucht eine bessere, aggressivere Marke. Er nennt sich mittlerweile Sido – Scheiß in Dein Ohr – und lässt sich von Specter nach dem Vorbild von Ghostface Killah eine Maske entwerfen. Von oben gesehen gleicht sie einem Mikrofon, von vorn erscheint sie als Totenkopf, der sein Gesicht silbern verbirgt und nur seinen Mund freilässt. Die Maske ist zugleich Schmuck und Logo, sie unterstreicht die Dualität Sidos, die Performanz seines Raps. Sido wirkt durch die Maske bedrohlicher, härter, aggressiver, immer drauf, immer besoffen, wie ein Drogenjunkie. Die Anonymität der tarnenden Maske gibt ihm die Möglichkeit, ein anderer zu sein. Er wird Schamane, Master of Ceremony, ein übermenschlicher Lyriker, der Geschichten aus dieser Welt und dem fantastischen Jenseits deutungsoffen vermischt.
Bald holt Aggro Berlin Bushido und Fler ins Team. Gemeinsam nehmen sie eine Label Compilation auf: die Aggro Ansage Nr. 1. Das Album mit Tracks wie Märkisches Viertel, Cordon Sport Massenmord, Boss, Alles ist die Sekte, Aggro und Arschficksong erzeugt einiges an Aufmerksamkeit. Es sind vulgäre Texte, die von Ghettos, Drogen und Sex berichten, Tabus brechen und den Style wichtiger als die Rap-Technik bewerten. Aggro Berlin orientiert sich am amerikanischen Gangsterrap, appliziert die sozialen Notstände auf deutsche Verhältnisse, von denen sie selbst behaupten, sie durchlebt zu haben. Dabei ist die Zeit in der Müllerstraße nicht ganz unerheblich – Spaiche berichtet: „Die Jungs ... waren nicht Teil unserer Gesellschaft. Sie schwebten irgendwo im Niemandsland. Sie waren Ausgestoßene.“ Paul und Bobby hatten kein Geld, keinen Job, keine Ausweispapiere, keine Sozialoder Krankenversicherung, einzig den Rap hatten sie, mit dem sie eigentlich auch kein Geld verdienen wollten. Mit bunter Sprache – die Texte voller Titten, Ärsche, Waffen –, versuchen sie, Tabus zu brechen und gesellschaftliche Grenzen zu verschieben. Specter sagt: „Hip-Hop ist, wie es ist, und daran können auch die Deutschen nichts ändern.“ Hip-Hop ist ein globales Konstrukt, das sich in unterschiedlichen lokalen Szenen niederschlägt, die einerseits eine gewisse Spezifikation durch Sprache oder die besprochenen Bildwelten erfahren, andererseits jedoch immer im Austausch mit den internationalen Entwicklungen bleiben.
Im Januar 2003 erscheint die Aggro Ansage Nr. 2, Ende des gleichen Jahres bringt das Label die Aggro Ansage Nr. 3 mit Sidos Weihnachtssong. Mittlerweile werden die Songs von Beathoavenz, genauer DJ Smolface und DJ Perez von Headrush, in einem alten Teppichlager in der Osloer Straße produziert. Auf der Aggro Ansage Nr. 3 erscheint Mein Block, der schon als Beilage in der Musikzeitschrift Juice zu finden war. Noch schlägt der Track keine größeren Wellen. Im April 2004 veröffentlicht Sido Mein Block (Remix) erneut – als Singleauskopplung seines ersten Albums Die Maske. Das Album katapultiert Sido auf Platz 3 der Albumcharts – die höchste Platzierung, die eine Independent- Produktion in Deutschland je bekommen hat. Mein Block (Remix) hält sich 19 Wochen in den deutschen Single Charts. Aggro Berlin ist zu dieser Zeit das wichtigste Hip-Hop-Label Deutschlands.
„Yeah, du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus / Weil du denkst du hast alles, was du brauchst“
Das Besondere am Track Mein Block ist seine Struktur: Sido rappt wie Georges Perec durch den imaginären Querschnitt eines 16-Geschossers am Senftenberger Ring. Die erste Strophe eröffnet einen Diskurs zwischen dem rappenden Ich und einem imaginierten Du, die sich vor allem aufgrund ihrer Lebenssituation und dem damit einhergehenden Wertesystem zu unterscheiden scheinen. Sido skizziert die Blockbewohner in jeweils ein bis drei Versen. Seine Texte sind chronistisch, vulgär, humorvoll, inhaltlich unschuldig. Das zugehörige Musikvideo von Daniel Harder korrespondiert mit den Synthilines des Tracks. Die Schnitte sind entsprechend hart, schnell und mit Lichteffekten hinterlegt. Fast alle Szenen sind dynamisch gefilmt, die Kamera folgt Sido, einer Straßenflucht oder zeigt eine Hofsituation im Pan. Im schemenhaften hellblauen Licht bewegt sich der Rapper mit der schamanenhaften Maske durch eindrückliche architektonische Bildwelten. Sido entwickelt die mediale Haltung der 1970er Jahre zum asozialen Wohnungsbau weiter in eine Mythologie des Ghettos. Das Märkische Viertel wird zum Symbol der Popkultur, die Bühne von Werner Düttmann bedient zusammen mit den Texten und Beats von Sido ein semantisches System, in dem die Form der Stadt wahrgenommen wird. 1967, inmitten des Bauprozesses im Berliner Norden, äußert Werner Düttmann in einem Interview: „Das Besondere am Märkischen Viertel ist die Brutalität, mit der wir da Lyrik gemacht haben.“
Helene Peters ist Architekturstudentin und freie Autorin.Dieser Text ist ein Auszug aus ihrer Arbeit für das Seminar: „Berlin ist viele Städte. Der Architekt und Stadtplaner Werner Düttmann“ bei Prof. Dr. Matthias Noell. Die dazugehörige Ausstellung war am bauhaus reuse am Ernst-Reuter-Platz im Oktober 2021 zu sehen.