Prof. Dr. Matthias Noell
Professor
Eine Wand voller Modelle – auf den ersten Blick nicht besonders geordnet. Die simplen Materialien und die wilde Unterbringung in einem Stahlblechregal lassen darauf schließen, dass es sich nicht um eine Ausstellung im musealen Rahmen handelt. Wohl eher um die Lagerung von Überresten einer Phase kreativer Schaffensprozesse einer oder mehrerer Personen. Darauf deuten auch die auf liederlich abgerissenem gelblichem Klebeband in verschiedenen Handschriften und uneinheitlicher Schriftform notierten Vornamen hin. „Salome“ lesen wir da, „Jonas“ oder „Flavia“. Man kennt sich wohl. Vielleicht durfte jeder nur ein bisschen von seinen Häusern, Konstruktionen, Möbeln und Materialien aufheben, denn die Fragmente sind kaum in der Lage, einen Prozess zu repräsentieren, von ihm zu erzählen. Der Blick auf zwei ebenfalls angeheftete Zettel mit identischem Text – „kann gerne als Referenz im Raum/Regal bleiben“ – verdeutlicht, dass es sich um eine höflich formulierte, nicht allzu direkte Aufforderung handelt, die vorhandenen Dinge nicht sofort wegzuwerfen, sondern als Ausgangspunkte des weiteren Arbeitens und Denkens zu verwenden. Die Referenz, wir erinnern uns, ist der offene und barrierefreie Ersatz für den abgelegten bildungsbürgerlichen Kanon, kann diesen aber letztlich nur um den Preis der individualistischen Beliebigkeit beerben. Die Referenz ist das seltsame Überbleibsel einer postmodernen Vielfalt der Architektur bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer angeblich allgemeinverständlichen Bezugssysteme. Aber worauf referieren diese kleinen Dinge im Regal nun genau? Müssen das die Betrachter* innen nach dem Tod der Autor*innen selbst erarbeiten, oder ist es möglicherweise in den Dingen abgelegt und gespeichert? „Wer hat dich gemacht?“, ließ Paul Valéry Sokrates fragen, der mit dem „zweideutigsten Ding der Welt“ am Strand stand, einer Fundsache der Natur, des Menschen oder der Zeit? Die Überlegungen führen zum Ich, das sich zwischen Bauen und Erkennen entscheidet, zwischen Künstler und Philosoph. Der Briefträger Ferdinand Cheval, der aus tausenden von aufgesammelten Steinen sein „Palais idéal“ substanziell zusammenklebte, oder Le Corbusier, der ein begeisterter Sammler von Naturalien und Fundsachen war, um diese in seinen Gebäuden als reine Idee zu integrieren, hätten es sicher zur späteren Verwendung aufgehoben. Sokrates, der Philosoph, wirft das Ding zurück ins Meer, denn der Gedanke ist gefasst, die Fragen sind gestellt. Aber dennoch bleibt der Gegenstand bei ihm, denn „der Geist gibt nicht so leicht ein Rätsel wieder her“.
Im Regal steht auch das Modell einer kleinen Klappleiter vor einem Stapel aus Graupappe-Kisten ohne erkennbare Form und Struktur, einem sehr geradlinigen, fast belanglos aussehenden Haus mit Satteldach und sehr einseitig platzierter Belichtung sowie einer schiefen Darstellung einer Holzrahmenkonstruktion darüber – als ob dort kleine Menschen ihre Häusertürme erklettern müssten, um in ihnen zu leben. Ein sogenannter Gulliver Gap, zweifellos, als den man das nahezu zwangsläufig auftretende Problem bezeichnet, das bei der Herstellung, Verwendung und Betrachtung von Architektur-Modellen auftritt, und das durch die Differenz von Modellmaßstab und „realem“ menschlichem Maßstab in der Wahrnehmung hervorgerufen wird. Ein Problem der Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher Systeme der Repräsentation, das uns im Angesicht des Modells gleichzeitig zu groß oder das betrachtete Modell gegenüber von uns zu klein werden lässt. Die Maßstäbe gehören zwei unterschiedlichen Welten an, einer imaginierten und einer realen, aber gleichzeitig sind sie doch unausweichlich im unteilbaren Ich verortet. Wie ein Kippbild produziert auch die Maßstabsdifferenz eine Instabilität des Wahrnehmens. Im Alltag gehen wir meist nonchalant über solche Spitzfindigkeiten hinweg, und doch ist der Gulliver Gap der stetige Begleiter unseres Denkens in und mit Modellen, denn diese sind nicht allein reale und manchmal mathematisch korrekt hergestellte Objekte, sondern auch imaginierte Orte der Selbstprojektion. Wir könnten diese Leiter verwenden, um über Umwege in das kleine Haus oben auf dem Stapel zu gelangen – wären wir nur ein bisschen kleiner. Die Beschriftung scheint auf den Gulliver Gap hinzudeuten: „Kann gerne im Raum/Regal bleiben“. Steckt hinter der freundlich klingenden Formulierung einfach nur ein Verbot, die Modelle zu entfernen? Aber woraus? Aus dem Regal, das selbst ein ephemeres Modell einer kollektiven Entwurfslandschaft zu sein scheint? Aus dem Raum der Universität, die wiederum auch nur ein Modell der Wirklichkeit ist? Denn Modelle sind Vereinfachungen der komplexen Welt – experimentelle Umsteigestationen zwischen Wirklichkeit und Utopie. Und sie sind Matrjoschkas, russische Puppen. Nicht selten entspringt dem einen Modell das Modellhafte eines anderen, die Modelle spiegeln sich in die Unendlichkeit. Daher ist Vorsicht geboten, unter dem einem verstecken sich gern auch mal andere Modelle: Un modèle peut en cacher un autre.
Modelle erleichtern es uns, gerade in ihrer nicht materiellen Form, die Grundbedingungen einer architektonischen, philosophischen oder auch mathematischen Aufgabe zu erproben, zu erkennen und zu verstehen. Als verkleinerte dreidimensionale Gegenstände zur Darstellung oder Simulation der gebauten Wirklichkeit oder eben auch imaginierter Möglichkeit werden Architekturmodelle im Entwurfsprozess ebenso verwendet wie zur Vermittlung in der akademischen Lehre und in der Gesellschaft. Modelle sind nötig, um über den zu entwerfenden Raum und seine Bedingungen, Qualitäten und Wahrnehmungsformen zu reflektieren, aber auch um Konstruktion, Fügung und Tektonik verstehen zu lernen. Und zudem ist dem Modell auch etwas Spielerisches inhärent, die Erfindung des Baukastens im 19. Jahrhundert diente nicht selten als Modell.
Dem genannten Maßstabs-Problem kann daher ein weiteres grundlegendes Problem zur Seite gestellt werden: Das Modell ist nicht allein Mittel einer möglichst realitätstreuen Darstellung, es vermittelt als Gegenstand zwischen den Welten der Realität und der Vorstellung – zwischen Theorie und Praxis, zwischen Idee und Form, so jedenfalls sah es Leon Battista Alberti. Damit aber ist das Modell sowohl gegenständlich zu betrachten als auch als Idee, es ist ein „objet ambigu“, wie Paul Valéry sein seltsames Fundstück genannt hat. Aber natürlich ist die Angelegenheit komplizierter: Tatsächlich können wir grundsätzlich
jeden Gegenstand zum Modell erklären und damit zur Idee erheben, denn über die Modellfunktion entscheiden nicht immer nur die Produzierenden einer Sache. Dass etwas auch zum Modell wider Willen werden kann, legt uns ein Blick auf die Denkmaltheorie nahe. Rem Koolhaas‘ Erstaunen, als ein Wohnhaus, dass er in der Nähe von
Bordeaux realisiert hatte, nur wenige Jahre nach dem Bezug als schützenswertes Denkmal, als kanonisiertes Objekt einer modellhaft verstandenen Vergangenheit, der Geschichte, eingestuft wurde, führte ihn zu der Feststellung von der Denkmalpflege überholt worden zu sein: „Preservation is overtaking us“. Das Erkennen von Modellhaftigkeit ist eine Frage der Bewertung, des Filters, durch den wir die Welt sehen, und abhängig von der Richtung oder Perspektive, aus der wir auf den Gegenstand sehen. Vielleicht sind daher jene Architekturen und Objekte immer so faszinierend, die in der ausgeführten Realität etwas von ihrem Modellcharakter bewahren können, oder gar selbst aussehen wie das Modell ihrer selbst. Denn dann stehen wir Betrachter*innen vor dem Gegenstand und erleben einen doppelten Gulliver Gap, die Verstörung angesichts des erwarteten Maßstabssprungs und seiner Folgen, der sich jedoch in der maßstäblichen, nunmehr liliputanischen Identität auflöst.
Modelle sind aber auch selbst faszinierende und daher schützenwerte Gegenstände, Artefakte der Vergangenheit, durch die wir Einblick in Ideenwelten und Weltenentwürfe erhalten. Daher werden sie, da Architektur selbst im Regelfall nicht sammlungsfähig ist, als eine der wenigen möglichen medialen Ausdrucksformen von Architektur gesammelt, archiviert und auch ausgestellt. Wenn Modelle ihre Herkunft der Ideenproduktion und des Entwurfsprozesses verlassen haben und in die Welt der privaten Archive oder öffentlichen Sammlungen übergegangen sind, verlieren sie jedoch die ambivalente Stellung als Umsteigestation zwischen Idee und Form. Meist werden sie hier von Kurator*innen und Betrachter*innen in die einengende Rolle des verkleinerten Abbilds der „echten“ Architektur gezwängt und auch nur selten auf die ihnen eigenen Regeln und Kontexte befragt. Die so verstörende und anregende maßstäbliche Differenz verschwindet dann hinter dem Willen, im Modell nur die Referenz zu sehen, die Architektur endlich in ihrer Gänze überblicken zu können und das Modell so schlussendlich in seinem Reichtum und seiner Widersprüchlichkeit zu übersehen. Dabei können wir gerade in Ausstellungen mit den Dingen deutlicher und wahrnehmbarer in einen Dialog treten, als wir es gewöhnlicherweise im Alltag tun, denn der reine Gebrauchswert ist abgelegt zugunsten einer neuen Beziehung, die wir mit den deund rekontextualisierten Gegenständen eingehen müssen. Die meisten Ausstellungen aber erzählen gar nichts über die Objekte, die sie ausstellen, diese stehen nur in ihnen herum oder sich selbst und uns stumm gegenüber.
Modelle sind zumeist fragile Gegenstände, ihre Konstruktion, Fügung und Ausführung ist eher für Momentaufnahmen gemacht als für eine lange Haltbarkeit konzipiert – auch wenn sie manchmal durch ihr verwendetes Material und ihre Technik (z. B. Betonguss) den Anspruch der Monumentalität und Dauerhaftigkeit vermitteln wollen. Manchmal werden Modelle so zu konservatorischen Problemfällen, zum Beispiel, wenn verderbliche und wenig haltbare Materialien verwendet wurden, ungehindert Licht, Luft und Staub an sie herantreten oder kleine Tiere über sie herfallen. Dann vergilben, verrotten oder zersetzen sich die materialisierten Ideen. Modelle werden fast immer zu dauerhaften Pflegefällen. Darin ähneln sie dann doch unseren Großbauten, um die man im regelmäßigen Turnus rundherum restaurieren muss, damit sie nicht doch „von Zeit zu Zeit Ziegel oder Mauerbrocken in die Tiefe“ werfen, wie das Alois Brandstetter einmal für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Wunsch formulierte – „lebendig und schrecklich“. Was wäre also, wenn wir uns Modelle als kleine Lebewesen vorstellten, die ohne künstliche Lebenserhaltungsmaßnahmen nicht in der Lage wären, allein für sich zu sorgen? Sie fristeten unter einer Haube ein einsames, abgekoppeltes Dasein, mit Schläuchen an Apparate angeschlossen, ein bisschen wie aus einer anderen Galaxie. Kleine Wesen, die uns unsere eigenen Utopien spiegeln und dabei ein uns durchaus berührendes Eigenleben entwickeln, weil wir in ihnen doch mehr sehen als verkleinerte Objekte. Modelle einer Idee von Modellen, entwickelt an Modellen von Ideen.
Ein integriertes Entwurfs- und Ausstellungsprojekt zum Thema „Modelle“ und zu den Möglichkeiten ihres Ausstellens, Studiengang Architektur, WS 2021/2022, Fachgebiete Experimentelles Gestalten + Grundlagen des Entwerfens (Prof. Enrique Sobejano), Architekturgeschichte + Architekturtheorie (Prof. Matthias Noell) in Kooperation mit dem Baukunstarchiv der Akademie der Künste, Berlin (Sibylle Hoiman)