Gábor Tarkövi
Professor
Ein ungarisch-deutscher klassischer Trompeter und ein amerikanischer Musical-Spezialist sind unsere Gesprächspartner. Zwei sehr unterschiedliche Genres – ist aber die Herangehensweise an den kreativen Prozess so anders, wie es scheinen mag? Adam Benzwi, Pianist und Dirigent, ist an Berlins großen Opern- und Theaterbühnen genauso zu Hause wie beim Musical „Cabaret“ im TIPI. Studiert hat der Kalifornier an der Stanford University und an der Columbia in New York. In Berlin seit Mitte der 1980er Jahre, war er am Aufbau des Studiengangs Musical/ Show beteiligt. Eine lange und enge Zusammenarbeit verbindet
ihn mit Barrie Kosky, gerade ist er mit der musikalischen Gestaltung für die Revue des scheidenden Intendanten der Komischen Oper Berlin beschäftigt.
Gábor Tarkövi ist schnell nach seinem Studium in Budapest an große Orchester in Deutschland engagiert worden: München, Reutlingen, Berlin. Gespielt hat er unter Dirigenten wie Simon Rattle, Bernard Haitink oder Lorin Maazel. Viele Jahre war er Solotrompeter der Berliner Philharmoniker, bis er das Orchester auf eigenem Wunsch verließ, um sich seiner Professur zu widmen und neuen Herausforderungen zu stellen. Wir treffen beide Musiker zwischen zwei Proben, im Arbeitslicht auf einer der Probebühnen der Komischen Oper Berlin.
Adam Benzwi: Haltung ist ein großes Wort in meiner Arbeit. Ich bringe Schauspiel und Musik zusammen. Die erste Frage ist: Was passiert in einem Lied, was sagt der Text? In der „Dreigroschenoper“ gibt es diese berühmte „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“. Bei den Proben im Berliner Ensemble haben wir sie untersucht und herausgefunden, dass es hier eigentlich um Sexsucht geht. Es kann aber jede Sucht gemeint sein. Wichtig ist in dem Song die Menschen, die sexsüchtig sind, nicht zu verurteilen und abzuwerten, sondern dass erklärt wird, was mit ihnen passiert. Dann kann man ihnen ohne Bewertung begegnen. Das ist die Haltung hier: „Das sind arme Menschen, die diesen kranken Zustand haben. Ich kläre euch differenziert und mit Humor über Sexsucht auf.“ Die Musik spiele ich auch so, ohne zu verurteilen. Ja – ich könnte jetzt einen Vortrag über Haltung halten, allein über Körperhaltung – das ist bestimmt für euch genauso wichtig?
Gábor Tarkövi: Ja, natürlich. Es sind drei Aspekte: Wie man seinen Körper hält – dass man gerade steht, damit man auch gut atmen und die Luft gut führen kann. Das ist wichtig für die Tonerzeugung. Für beides braucht man eine ausgeglichene entspannte Haltung. Das kann man beim Yoga super lernen. Dann kommt noch dazu, wie mansich zu seinem Instrument verhält, der Respekt davor. Und dann, wenn man auf der Bühne steht, muss man Sicherheit ausstrahlen, dem Publikum direkt in die Augen schauen. Klar, Miles Davis hat manchmal nach vorn gebeugt gespielt, wegen seiner Rückenprobleme – so hat es ihm nicht wehgetan. Haltung ist ein gutes Wort, es vebindet vieles in meiner Arbeit. Als Lehrer bin ich eher streng, aber es ist wichtig, dass man seine Persönlichkeit nicht verliert. Darüber spreche ich viel mit meinen Studierenden, oft ohne die Trompete. Dann erzählen sie freier von ihren Ängsten. Und das ist der wichtigste Punkt: Dass man einem Lehrer vertraut, dann versteht man auch seine Haltung, seine Strenge. Ich bereite eigentlich 70 bis 80 Prozent von ihnen für einen Orchesterjob vor. Sie kommen zu mir mit 18 und sollen mit 23 oder 24 möglicherweise davon leben können.
Die Trompete ist ja ein Hot Seat in einem Orchester. Was sind die Ängste der Studierenden?
Tarkövi: Einen Ton nicht zu treffen zum Beispiel. Wir arbeiten mit Luft – wie auch Sänger, wir müssen also den Luftfluss in Bewegung halten. Und sehr viel üben, täglich. Das ist anders als beim Klavierspielen: Hat ein Trompeter drei Tagen lang nicht geübt, klingt die Trompete nicht, sie macht nur Geräusche. Das andere ist mentales Training, wenn man Angst davor hat, auf der Bühne zu stehen. Bei einem Vorspiel gehen die Studierenden automatisch nach hinten. Macht man vor dem Auftritt nur einen einzigen Schritt nach vorn, hat man die Angst schon überwunden. Ein Trompeter hat die gleichen Ängste wie alle anderen Musiker. Nur seine Fehler sind ein bisschen lauter.
Vertrauen ist bei der Arbeit mit Schauspielern und dem Orchester auch sehr wichtig ...
Benzwi: Ja, meine Grundhaltung ist: Vertrauen aufbauen und das Beste aus den Menschen herauslocken mit Freundlichkeit, auch mit Disziplin, positiv, durch Lust machen, Interesse. Neugierde für das Material wecken, wieder und wieder neu zu entdecken und immer tiefer zu gehen. Klar hat man Macht, wenn man „Nein“ sagt, ich aber mag die freundliche Macht. Ich bin spät im Leben zum Dirigieren gekommen, mit 48, und lerne noch immer. Ich singe immer mit dem Orchester bei den ersten Proben, damit die Musiker den Text hören und ihre eigene Haltung dazu herausfinden. Wenn ich ein Stück oder ein Lied bekomme, ist für mich der erste Schritt, erst einmal zu schauen, was
da drin ist, was mich begeistert. Das mache ich auch mit den Schauspielern und den Musikern. Wenn nichts drin ist, was dich begeistert, dann mach es nicht! Aber selbst in den trivialsten Schlagern findet sich etwas, wenn man die Oberfläche etwas wegkratzt. Sie wären nicht Hits, wenn da nicht was Gutes wäre. Oder die Operetten, die ich hier
mache. Natürlich sind sie lustig und köstlich, sollen sie auch sein. Unter jeder leichten Komödie aber liegen große Themen, man kann sie entdecken und nicht einfach als „leichte Kost“ abtun. Die Geschichten in den Operetten sind toll, super erzählt von erstklassigen Schreibern, und sie sind aktuell. Ich verteidige sie, diese scheinbar triviale Literatur. Sie ist emotional, darin findet sich was Gutes. Wenn ich mit den Musikern inhaltlich darüber spreche, kommt dann auch etwas ganz anderes, neu gesehenes heraus.
Sie arbeiten eng am Text. Integrieren Sie auch persönliche emotionale Situationen, in denen die Schauspieler oder Musiker gerade sind?
Benzwi: Ja, auch. Ich beobachte genau, schaue ihnen genau in die Gesichter bei den Proben. Wenn ich z. B. weiß, das Kind eines Musikers ist krank und wir machen gerade eine emotionale Stelle, dann sehe ich seine Sorgen, ich fühle, was er fühlt, und das alles kommt auch auf der Bühne zusammen. Musik ist Emotion, das ist das Tolle! Sie geschieht im Moment, passiert einfach, und du kannst es nie beschreiben, nur erleben … „Cats“ zum Beispiel ist von vielen verpönt. (Singt:) “Mondliiicht. Schau hinauf in das Mondliiicht“. Viele halten dieses Lied für Kitsch. Mondlicht ist für mich die Gefühlswelt, in diesem Lied geht um einen sterbenden Menschen, der nochmals die große Gefühle spüren will, das find ich wertvoll. Die Musik ist gut gebaut, auch das ist eine Kunst in der trivialen Musik oder beim Schlager. Diese
Lieder von Andrew Lloyd Webber berühren Millionen von Menschen, und ich nehme sie genauso ernst wie einen Heine oder Brecht.
Was ist Kitsch?
Benzwi: Ich glaube, Kitsch ist, wenn was fehlt, wenn die Ernsthaftigkeit fehlt, wenn man in den Effekt geht, wenn die Erotik nicht stimmt, wenn die Freude nicht echt ist. Aber ich mag Kitsch und setze ihn positiv ein. Operetten spiele ich manchmal bewusst kitschig oder falsch, nicht so sauber und schön intoniert, und es macht Spaß.
Tarkövi: Kitsch ist schwer zu definieren. Ich habe auf Hochzeiten gespielt, alles, von Polka bis „Cats“. Blasmusik. Damit bin ich aufgewachsen, mein Großvater war Kapellmeister im Dorf, alle in der Familie haben ein Instrument gespielt. Und wenn man es gut macht, dann freuen sich die Leute. Ich glaube, Kitsch ist erfunden worden, um etwas abzuwerten, im Gegensatz zu ernsthaft. Ob etwas kitschig ist oder nicht – es muss gut sein.
Haltung kann auch Stil sein. Die Berliner Philharmoniker haben einen ganz bestimmten Stil und Klang. Die Wiener Philharmoniker erkennt man auch sofort am Klang. Warum? Ist es abhängig vom Dirigenten, vom Orchesterkörper? Vom Stil?
Tarkövi: Ein Orchester spielt so, wie sein Saal ist. In Berlin spielt man in die Fläche, länger, der Saal ist sehr groß. Würden die Berliner im Musikverein in Wien nicht etwas zurückgenommener spielen, würden sie klingen wie ein Elefant im Porzellanladen. Das weiß der Dirigent, und dort spielt man anders, etwas leiser. In der Berliner Philharmonie klingt kein anderes Orchester so gut wie die Berliner selbst, weil sie wissen, wie man dort spielt.
Aber noch etwas zur Haltung: Ein guter Dirigent muss motivieren können, die Partitur immer wieder neu zu entdecken. Die besten Dirigenten sind Motivationskünstler, auch wenn sie manchmal hart sind. Aber liebt man sein Orchester, vertraut man sich gegenseitig, funktioniert das. Große Dirigenten sind freundlich und fordernd zugleich. Und das macht dann großen Spaß. Das ist eigentlich das Wichtigste, das Spielen, das Instrument muss Spaß machen. Wenn nicht, klingt es trocken.
Benzwi: Interessant, in Berlin ist es besser, die Emotionalität trocken, kalt zu halten. Ich glaube, in anderen Ländern und gar in anderen Städten ist es glaubwürdiger, wenn man große Gefühle beim Singen groß und theatralisch rauslässt. Wenn man das Publikum berühren will, tut man es in Berlin besser mit Zurückhaltung. Das muss man wissen, man muss wissen, wo man ist und für wen man spielt und mit welchen Sängern.
Sie inszenieren sehr unterschiedliche Werke. Wie arbeiten Sie stilistisch, interessieren Sie Stile?
Benzwi: Stile nehme ich nicht so auseinander und analysiere sie, wie ich Texte analysiere, oder wie ich eine Dynamik einer Szene aufbaue. Die Stile kenne ich einfach … Ich verlasse mich hier komplett auf meinen Instinkt. Ich höre die Musik und weiß, bei dieser Nummer muss es so sein.
Und wie bauen Sie eine Dynamik auf?
Benzwi: Ich liebe die Arbeit mit Dynamik sehr und gehe gern in die Extreme, von Pianissimo bis Fortissimo. Dynamik muss man aufbauen. Musik ist viel handwerklicher als man denkt. Nicht so vergeistigt, wie es aussehen mag. Es ist viel Planung. Wenn das Orchester eine Stelle schon sehr laut spielt, kann man von da aus kein Crescendo mehr machen. Wie erzeugt man emotionale Spannung? Kann man das Publikum zum Weinen bringen, wenn man schon am Anfang einer Szene traurig ist? Es ist interessanter, das innere Drama auf der Bühne zu sehen, den Prozess, wie jemand sich anfangs belügt und während eines Liedes mit sich ringt und am Ende die Wahrheit eingesteht. Wenn der Sänger mit den Tränen kämpft, ist man auch im Saal berührt.
Der Spannungsbogen ist zugleich ein Prozess …
Benzwi: Ja, das Formulieren der Gedanken beim Reden, so hat es Kleist gesagt. So ist es beim Text, aber auch bei der Musik. Kleines Beispiel: In vielen Liedern singt man: „Ich liebe dich“, und die Sänger wollen es oft mit einem Lächeln tun. Das tötet alles. Ich bin oft allergisch gegen Lächeln auf der Bühne. Meine Erfahrungen mit „Ich liebe dich“-Sagen– die paar Male, die ich das in meinem Leben gesagt habe: Ich war super gestresst, ich habe mit den Tränen gekämpft, der andere sollte sich nicht verpflichtet fühlen, das auch zu sagen. Es war so viel Überwindung, das zu sagen. Es ist ein innerer Konflikt – und zeigt man den in einem Lied, dann ist es überwältigend. Der emotionale Prozess ist wichtig. Oder ein anderes Beispiel: das Illustrieren. Schaut man nach oben, in den Himmel, wenn man über den Mond und die Sterne singt – dann ist alles aus. Ich will sehen, das Publikum will sehen, was du denkst, was in dir vorgeht, was du fühlst, wenn du an die Sterne denkst. Dass die Sterne da oben sind, wissen wir. Oder: „Ich hasse dich“ zu sagen, kann heißen: „Liebe mich!“ Eine Forderung. Es kann interessanter sein, wenn man es sanft sagt, nicht herausschreit.
Es ist der Kontrast.
Benzwi: Ja, noch etwas – ist die Musik wütend und der Text ist es auch, kann es auch schnell langweilig werden. Oder Moll. Oft meint man, Moll bedeutet traurig. Das wirkt meist flach. Ein kleiner Trick von mir: Moll-Melodien als Verführung zu singen.
Tarkövi: Ich glaube, man kann jede Melodie, jede Tonart unterschiedlich auslegen, auf den Spieler kommt es an. Das ist das Wunderbare in der Musik. Es sind zwar nur Töne, aber man kann die Melodie traurig oder fröhlich spielen. Oder hoffnungsvoll und traurig. Setzt man das jeweils richtig ein, ist es auf beiden Seiten sehr wirksam. Beide Haltungen sind gut. Zurück zum Stil. Um einen guten Stil, Gefühl zu haben, muss man die Stile genau kennen. Man spielt oder dirigiert Mozart anders als die „West Side Story“. Jeder Stil hat seine eigene Sprache. Artikulation ist ein wichtiger, sehr großer Teil in meinem Unterricht. Auch das hat mit Haltung zu tun, dass man vorn spricht und eine klare Artikulation hat. Meine Klasse ist sehr international, der Spanier zum Beispiel spricht normalerweise hinten. Als Trompeter muss aber alles vorn sein, sonst ist die Artikulation undeutlich. Die Japanerin spricht wieder anders.
Wie steuert man das, wie trainieren Sie Artikulation?
Tarkövi: Durch Laute, durch die Stellung der Zunge, sie steuert den Luftfluss. Zum Beispiel: In der Mittellage ist die Zunge bei „taaa“, in der
tiefen Lage ist es „tuuu“, die Luft kommt auch langsamer heraus. Dann geht die Zunge runter nach hinten. Sage ich „tiii“, steht die Zunge hoch. Und diese Zungenstellung beeinflusst den Luftfluss. Die Zunge muss generell vorn stehen, zieht man sie nach hinten, verschließt sie die Luft. Dann kommt gar nichts raus und man hat das Gefühl, da ist ein Knoten im Hals. Wir machen natürlich auch Übungen. Dieser Luftfluss, von dem ich am Anfang gesprochen habe, gibt uns die Sicherheit und bestimmt, wie wir artikulieren. Wo steht die Zunge? Hat man Angst, verschluckt man buchstäblich seine Zunge.
Musizieren ist sehr körperlich, in beide Richtungen. Sowohl die Arbeit selbst, weil sie aus dem Körper herausgeht, die Verbindung mit dem Instrument und schließlich mit dem Raum, mit einem Konzertsaal.
Benzwi: Wie man spielt oder singt, ist auch Muskelerinnerung, Körpererinnerung. Der Körper merkt sich die Musik. Die Hände. Das spüre ich auch beim Dirigieren. Vertraue immer deiner Muskelerinnerung.
Sie haben letztes Jahr die „Dreigroschenoper“ am Berliner Ensemble mit Barrie Kosky auf die Bühne gebracht. Wie haben Sie mit der Artikulation bei Brecht gearbeitet?
Benzwi: Ich bin Sprachfetischist. Ich mag Artikulation, die muss klar sein, das liebe ich. Aber es muss nicht immer ein bestimmter Stil sein, in dem man unbedingt sprechen muss. Bei der „Dreigroschenoper“, da gibt es diesen bestimmten Stil, wie man die Lieder singt. Ich habe nie verstanden warum. Warum muss man zum Beispiel singen „
Mackie Messerrrrrr“. Das kennt man so, das macht man so seit Jahren. Die Texte sind toll, die Melodien sind toll. Müssen wir das tun? Ich wollte es nicht, und das, was passiert ist, war interessant und schön. Wenn man ein Werk von bestimmten Normen befreien kann, geht die Fantasie los. Warum muss Carmen immer ein rotes Kleid tragen?
Adam Benzwi ist Honorarprofessor im Studiengang Musical/Show. Gábor Tarkövi ist Professor für Trompete. Das Gespräch führten Marina Dafova und Claudia Assmann. Text: Marina Dafova