Das Instrument als Klangskulptur: Daniel Kogge und Yves Gateau
Eine Stradivari-Violine findet sich in der bemerkenswerten Sammlung
der Universität der Künste in Berlin – die „Marteau“ (gebaut 1709).
Sie wurde von Ihnen restauriert. Eine andere, stark beschädigte Stradivari,
die „Paravacini“ (gebaut 1725), haben Sie aufsehenerregend in
ihren ursprünglichen Glanz wiederhergestellt; ihr Comeback hatte sie
2013 in der Dresdner Semperoper. Sie rekonstruieren und setzten Instrumente
instand, die bis zu 300 Jahre alt sind: Violinen, Violas, Celli.
Ihre Arbeit ist ähnlich komplex wie Ihr Gegenstand selbst – bewegt
sich zwischen Handwerk und detektivischer Investigation, Bildhauerei
und enormem Wissen um Material und Geschichte.
Yves Gateau: Man ist auch ein bisschen wie ein Arzt. Das sind zunächst
drei große Sparten, in denen wir arbeiten: Restaurierung, Reparatur
und das Einstellen des Klangs der Instrumente.
Eine Violine ist ein Kunstwerk für ein Kunstwerk – für eine musikalische
Komposition, sie ist ein Klang-Körper. Wie wird Klang eingestellt?
Gateau: Mechanisch. Zum Beispiel werden neue Saiten aufgezogen,
der Steg wird erneuert, der Stimmstock wird bewegt oder erneuert.
Der Stimmstock, auch Stimme genannt, ist die Seele des Instruments.
Er heißt âme auf französisch oder anima auf italienisch. Er befindet
sich im Korpus und ist nicht sichtbar – ein kleiner zylinderförmiger
Stab aus Fichte, der zwischen Decke und Boden des Instruments geklemm
ist und die Schwingungen überträgt. Die Position, das Material,
die Länge oder Dicke des Stimmstocks bestimmen wesentlich
den Klang des Instruments. Wenn man die Stimme bewegt, den
Stimmstock also, dann ändert man die Lautstärke, die Ansprache,
die Farbe, die Brillanz, ob das Instrument dunkler oder heller klingt.
Letztlich passt man die Stimme so an, wie der Spieler gerade sein Instrument
gern haben möchte.
Das Material bestimmt den Klang …
Gateau: … und es ist eine Gesamtheit – Instrument, Bogen, Musiker.
Wenn das alles zusammenpasst, ist es ein schönes Ensemble. Klang ist
sehr subjektiv, sehr individuell.
Daniel Kogge: Je besser, qualitativ höher ein Instrument ist, desto
mehr Möglichkeiten hat man, Dinge zu verändern. Ein einfaches Instrument
kann man nicht zu einer Stradivari machen, selbst mit einem
guten Setup, etwas überspitzt gesagt. Das Sound Adjustment,
die Klangeinstellung ist einer von vielen Faktoren. Was braucht der
Musiker oder die Musikerin? Was für eine Einstellung gefällt ihm oder
ihr? Eine Klangeinstellung, die vor einem Jahr perfekt war, muss es
heute nicht mehr sein. Entweder haben sich die Hörgewohnheiten
verändert oder die Bedürfnisse des Spielers. Vielleicht ist der Steg verrutscht,
beim Saitenaufziehen etwas verbogen. Aber es ist nie allgemeingültig.
Und dann wird justiert, die Einstellung wird verfeinert. So
dass das Instrument der Literatur angepasst wird, die gespielt wird.
Für Bach oder barocke Musik ist es eine bestimmte Einstellung, man
kann Darmsaiten benutzen, die sind wärmer, aber etwas schwerer in
der Ansprache. Für Brahms sind es Kunststoffsaiten, sie werden sehr
stark beansprucht und die Geige muss viel Druck aushalten, mehr als
bei Bach. Es gibt Musiker, die kommen jede Woche vorbei, andere einmal
im halben Jahr, jeweils wenn sich die Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit
verändern: jeweils zu Beginn des Winters (trocken) und
des Sommers (feuchter). Oder vor oder nach Tourneen – im Flugzeug
ist es sehr trocken, da muss gegebenenfalls nachjustiert werden.
Sie haben vor 25 Jahren Ihr Atelier Kogge & Gateau in Berlin gegründet
Wie wird man Restaurator oder Instrumentenbauer?
Kogge: Wir sind gelernte Geigenbauer, das ist ein richtiger Lehrberuf
mit Meisterprüfung in Geigenbauer-Zentren in Europa, traditionelle
handwerklich orientierte Schulen. Aber es ist vor allem eine Passion.
Und der Zugang zur Musik. Ich habe selbst Cello gespielt, für mich ist
es eine ideale Verbindung der Kunst – der Musik mit Handwerk. Reizvoll
ist auch die Auseinandersetzung mit den Künstlern, wir haben täglich
mit den Musikern zu tun. Ob einfach mal eine Saite aufziehen und
kurz den Klang hören oder eine aufwendige Restaurierung und Reparatur,
nach der der Musiker oder die Musikerin das Instrument einspielt
und man es über Monate weiterhin betreut. Yves und ich wollten genau
das machen. Es ist sehr inspirierend, sich diese alten Meisterwerke
anzuschauen, sie anzuhören, die Unterschiede, Stilistik, die verschiedenen
Schulen, mit den Instrumenten zu arbeiten, sie zu restaurieren,
zu reparieren.
Und wie unterscheiden sie sich stilistisch? Vom handwerklichen Ansatz,
von der Materialwahl, von der Architektur?
Kogge: Die Materialien sind die gleichen: Meistens Ahorn für den Boden,
die Zargen (die Seitenwände) und den Kopf – die sogenannte
Schnecke. Die Decke ist aus Fichte. Das hat sich über die Jahrhunderte
etabliert, auch wenn sich die Hörgewohnheiten verändert haben. Allerdings
gibt es große Unterschiede, welche Herkunft das Holz hat, das
man verwendet. Diese „Ton-Hölzer“ kommen in der Regel aus höheren
Bergregionen, aus den Alpen und den Karpaten. Die Winter dort
sind lang und rau, da findet eine lange Verhärtung des Holzes statt,
das heißt, der Baum hat eine Widerstandsfähigkeit. Und er wächst
langsam, dadurch hat er eine gewisse Dichtigkeit. Gerade für die Decke
ist es wichtig, dass die Jahresringe möglichst gleichmäßig sind.
Das Holz muss auch astfrei sein. Der Ahorn, beim Boden, sollte einen
gleichmäßigen Wuchs haben, da geht es aber mehr um die optische
Attraktivität, um die „Flammung“. Da sind große Unterschiede zum
Beispiel zwischen der cremoneser und der neapolitanischen Schule.
Die reichen Geigenbauer aus Cremona haben hochwertigere Materialien
genommen als die nicht so wohlhabenden Neapolitaner oder
Milaneser. Dort wurde oftmals einfacher Ahorn verarbeitet, meistens
nicht „geflammt“ – vielleicht wurde ein solcher Baum wirklich in der
Nähe der Stadt gefällt.
Gateau: Einem Instrument sieht man die Qualität des Holzes und
die stilistische Verarbeitung an: Wie wurde es geschnitten? Wie ist
die Wölbung des Korpus? Wie sieht die Schnecke aus? Allein in Italien
gibt es enorme Unterschiede, dann gibt es noch die französische
Schule, die deutsche und englische mit sehr großen stilistischen und
handwerklichen Unterschieden innerhalb der Länder. Alle diese Dinge
aufzuspüren ist extrem reizvoll, wie sich das auch klanglich auswirkt,
ob eine Geige aus Neapel oder aus Venedig kommt.
Die Schnecke, sagt sie etwas aus über die Meisterschaft des Geigenbauers?
Sie ist sehr symbolisch, eine Spirale, steht für Unendlichkeit …
Kogge: Reine Dekoration. Es hat sich diese Form herausgebildet. Es
gab Löwenköpfe oder Gesichter bei den Barock-Instrumenten. Bei
Stradivari gibt es nur noch die Schnecke.
Die reine Ästhetik also, nur für die Schönheit. Das Musikinstrument ist
schon auch ein „Luxusobjekt“ … Vierhundert Gramm Holz als „Schatztruhe“
für die Seele des Klangs kann heute bis zu 11 Millionen Euro
wert sein. Etwa 300 Violinen von Stradivari gibt es wohl weltweit.
Kogge: Leute wie Stradivari hatten ja High-Profile-Auftraggeber,
Könige, Fürstenhäuser, reiche Klöster, die Medici.
Wie würde eine Karte des Geigenbaus in Europa aussehen? Könnte sie
klangliche Unterschiede darstellen?
Kogge: Klang ist sehr individuell, man könnte aber historische Linien
sichtbar machen: Wann und wo der Geigenbau besondere Blütezeiten
hatte. Alles hat zwar fast parallel angefangen, aber die erste große
Zeit war in Italien im 17. Jahrhundert. Dort gab es allerdings starke
Einflüsse aus dem deutschsprachigen Raum, nördlich der Alpen, und
vor allem aus Füssen. Das ist ein kleines Städtchen im Allgäu, in der
Nähe von Neuschwanstein, das man heute kaum noch kennt. Es lag an
der Via Claudia Augusta, einer der wichtigsten römischen Straßen, die
Norditalien über die Alpen mit dem süddeutschen Raum verband. Eine
Handelsstraße. Sehr viele deutsche Geigenbauer sind darüber ausgewandert
nach Österreich, Böhmen, Ungarn, vor allem aber nach Italien:
Venedig, Neapel, Rom. Im 17./18. Jahrhundert war Italien absoluter
Schwerpunkt, vor allem Cremona mit Amati, Guarneri und Stradivari,
Venedig, Brescia. Die französische Schule fängt um 1800 an, es gibt
auch paar frühere Meister, die stilistisch nach den Modellen von Jakob
Stainer gearbeitet haben, einem Tiroler Geigenbauer mit einem eigenen
Stil. Eine interessante, sehr einflussreiche Figur, später auch wieder
für deutsche Geigenbauer, sehr produktiv und neben Amati und Stradivari
am meisten kopiert. Die englische Schule in London z. B. hat sich
stilistisch komplett an Stainer orientiert, von Stradivari wollte sie nichts
wissen. Deutschland selbst hat eine weniger ausgeprägte Schule, bis
auf Süddeutschland, die Füssener Familien eben, Matthias Klotz in Mittenwald
/ Oberbayern oder Geigenbauer im Erzgebirge. Stilistisch auch
ganz eigen, etwas isoliert. Eine Karte könnte gut Einflüsse, Transfers
darstellen, von Süddeutschland nach Italien, nach Rom, nach Neapel,
nach Venedig, wo es eine enorme Weiterentwicklung gab. Und wieder
zurück und weiter nach Frankreich, parallel nach England.
Stilprägend waren und sind aber die Stradivari-Instrumente aus dem
17. Jahrhundert, deren Resonanzkörper bis heute unübertroffen sind.
Der Rolls Royce der Instrumente.
Gateau: Natürlich gab es noch andere, er war aber stilprägend und
hat das Modell geschaffen, das man bis heute als Ideal ansieht.
Kogge: Naja, wir sind ein sehr traditionelles, konservatives Fach. Als
die Instrumente gebaut wurden, wurde eine ganz andere Musikliteratur
gespielt und sie waren auch anders eingerichtet, hatten einen anderen
Halt. Das wird mit der historisch informierten Aufführungspraxis
wiederbelebt. Aber im Grunde genommen hat sich das meiste so
bewahrt. Wir hängen einem Ideal nach, das vor 300 Jahren erschaffen
worden ist. Das ist schon außergewöhnlich.
Der Bogen ist mindestens genauso edel wie das Instrument selbst.
Die Preise können bis zu 50.000 Euro erreichen. Und er ist sehr speziell.
Gateau: Der Bogen hat sich entlang der Spielpraxis und der Literatur
sehr stark verändert. Der barocke Bogen ist konvex gebogen, kurz
und leicht, um die 40 g und aus Schlangenholz oder Eisenholz aus Südamerika.
Um 1780 beginnt sich die Form gewaltig zu ändern, zuerst in
Frankreich. François Xavier Tourte – sozusagen der Stradivari des Bogenbaus
– entwickelte ein Modell, das bis heute prägend ist. Der moderne
Bogen ist aus Pernambuco – ein sehr besonderes Holz, fest und
biegsam – er ist länger und schwerer und hat eine konkave Biegung.
Dadurch erzeugt man mehr Widerstand und kann sehr viel Druck ausüben,
den man z. B. für romantische Literatur braucht.
Kogge: Diese Entwicklung hat natürlich auch mit der Französischen
Revolution zu tun. Musik wurde nicht mehr nur auf Schlössern und in
exklusiven Kammerkonzerten aufgeführt, das Bürgertum hat für sich
Konzertsäle gebaut, eroberte sich einen Zugang zur Musik. Die Franzosen,
noch mehr als die Italiener haben diese Entwicklung vorangetrieben,
es war ja eine politische Veränderung.
Man verwendet sehr edle Materialien, Rosshaar …
Kogge: Ja. Rosshaar wegen seiner perfekten Länge, und weil es mit
seinen leichten Widerhaken ideale Bedingungen bietet. Dann wird
der Bogen noch mit Kolophonium eingestrichen, Baumharz von Lärchen,
um einen Haftgleiteffekt zu erreichen.
Gateau: Bei besonders hochwertigen Bögen wird Gold verarbeitet. Perlmutt.
Und Schildpatt und Pernambuco – absolut verbotenes Material …
… das alles hat mit der Entdeckung der Neuen Welt zu tun. Mit politischer
und wirtschaftlicher Entwicklung, mit Kolonialismus, Handel.
Anhand eines einzigen Instruments lässt sich die Geschichte der letzten
400 Jahre erzählen!
Kogge: Ja, natürlich. Pernambuco kommt aus Brasilien, wird auch Brasilholz
genannt – pau brasil, rotes / glühendes Holz. Daraus wurde
später der Name des Landes abgeleitet, Brasilien. Dieses Rotholz
wurde im 17. Jahrhundert als Färbemittel sehr geschätzt. Es ist der
„Nationalbaum“ Brasiliens, steht heute unter Naturschutz und auf
der roten Liste der gefährdeten Arten. Das ist gerade ein ganz großes
Thema. Im Juni 2022 hat Brasilien beantragt, das Holz auf den
höchsten Schutzstatus des Washingtoner Artenschutzübereinkommens
CITES zu setzen – das bedeutet auch komplettes Ausfuhrverbot.
Wie für Elfenbein. Das bringt Bogenbauer in Bedrängnis und würde
das internationale Reisen von Musikern enorm erschweren.
Wie arbeiten Sie bei der Rekonstruktion eines Instruments?
Kogge: Die Rekonstruktion nennen wir Instandsetzung – als Programm.
Man hat beispielsweise eine deformierte Decke, die in der
Regel auch mit Rissen versehen ist. Als Erstes braucht man einen stabilen
Counterpart. Das heißt, man macht von dieser Decke einen Gegenabdruck
aus Gips, einen sogenannten Negativ-Gips. Er ist wie eine
Schale, in die diese deformierte Decke perfekt reinpasst. Das ist der
Ausgangspunkt einer Instandsetzung. Aus dieser Negativform macht
man ein Positiv; das ist nichts anderes als ein Abbild der ursprünglichen
Decke. Sie kann dann bearbeitet werden. Der Prozess bedeutet
viel beobachten, vergleichen, messen, schaben. Mithilfe von Licht und
Schatten kann man wunderbar sehen, wie die Wölbung verläuft. Wir
können nie wissen, wie die ursprüngliche Form war, können uns ihr
aber anhand der Gegebenheiten langsam annähern, und aus der Erfahrung,
weil wir Vergleichsinstrumente kennen. Wir kennen die Idealform,
und dann korrigieren wir mit Zyklen immer weiter, machen
wieder eine Negativform, eine Positivform usw., bis es passt.
Gateau: Um das Holz für den Korpus zu wölben, beschwert man es
mit Sandsäcken. Mit Feuchtigkeit und Wärme lässt sich Holz in jede
Form biegen. Es wird ganz leicht feucht gemacht und warm und dann
wird es eingepresst in die Form. Ganz langsam, über Monate nimmt
die Decke diese Form an. Es ist ein sehr langsamer Prozess. Es gibt die
Theorie – Shape Memory –, dass das Holz immer wieder in die Richtung
zurückfällt, wie es einmal geprägt wurde. Die Zarge zum Beispiel
ist auch in ihre Form gebogen, das sind eigentlich dünne glatte Streifen
Holz. Wenn man schließlich die Einzelteile wieder zusammenbaut,
muss man sie nicht neu biegen. Die Form ist noch vorhanden, das Material
hat sich ein bisschen gelöst, das heißt, dass es keine Feuchtigkeit
mehr gab. Shape Memory gibt es in diesem Fall schon, wenn das
Holz gut in diese Form gebracht worden ist. Bei einer Decke allerdings
funktioniert Shape Memory nicht, weil sie nicht gepresst, sondern aus
einem massivem Stück geschnitzt wird. Die Decke bringen wir dann
wieder in die letzte Form. Im Idealfall sollte sie ihr entsprechen. Weil
aber in diesem Prozess das Holz geweitet wird, gehen viele Risse wieder
auf; dann muss man sie leimen. Mit ganz konventionellem Tischlerleim,
Hautleim. Er ist hundertprozentig reversibel. Damit kann man
jede Reparatur gegebenenfalls rückgängig machen. Für dieses Stadium
gibt es dann auch eine Gipsform, die es sichert. Es sind sehr viele
Schritte und man arbeitet an mehreren Baustellen gleichzeitig …
… bis man ein Ideal erreicht hat. Es geht noch immer um die eine ideale
Form … Dieses Konzept kommt aus einer ganz anderen Zeit. Es ist
außergewöhnlich und schön, dass es in den Instrumenten weiterlebt.
Kogge: Ja, die Idee ist vielleicht etwas überholt, aber es ist noch immer
das Ideal. Hier hat es eine Nische gefunden.
Daniel Kogge und Yves Gateau betreuen seit vielen Jahren die
Streichinstrumentensammlung der UdK Berlin. www.kogge-gateau.de
Das Gespräch führte Marina Dafova.