Die Verantwortung des Historikers. Paul Nolte und Wolfgang Ruppert im Gespräch
Wozu brauchen wir Geschichte? Kann das Wissen um die Vergangenheit den Blick für die Gegenwart schärfen, beim Entwerfen einer möglichen Zukunft dienen? Öffnet Geschichte neue Erfahrungsräume und können durch sie Fragen nach individuellen Handlungsoptionen gestellt werden? Birgt Zeitgenossenschaft Verantwortung in sich – im Privaten wie im Öffentlichen –, können Historiker*innen wie auch Künstler*innen davon nicht ausgeschlossen werden. Darüber sprechen zwei Historiker: Paul Nolte, der über Demokratie, Werte und die deutsche Gesellschaft gearbeitet hat, und Wolfgang Ruppert, dessen Interesse der Kultur-, Sozial- und politischen Geschichte der kreativen Individualität gilt. Hier ist ein Auszug aus ihrem Gespräch im Rahmen der Ringvorlesung zur Institutionsgeschichte der UdK Berlin im November dieses Jahres.
Paul Nolte Institutionen und Organisationen fragen nach ihrer eigenen Vergangenheit: Das gab es immer schon. Runde Jahrestage wurden begangen, Festschriften zu Gründungsjubiläen aufgelegt. Aber in den letzten zwei Jahrzehnten, etwa seit der Jahrtausendwende, hat sich dieser Blick kritisch geschärft und die Perspektive verändert. Der heroische oder jedenfalls selbstbestätigende Modus des Feierns hat sich in einen selbstkritischen Modus transformiert. Wo ist im eigenen Haus etwas schiefgelaufen, wo liegen die wunden Punkte der Vergangenheit? Das hat in Deutschland auch weiterhin sehr viel mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu tun. Der Nationalsozialismus, das war nicht Hitler und eine kleine Gruppe von Eliten, die das deutsche Volk verführten; es war auch keine abstrakte Struktur von Herrschaft, für deren Analyse und Verständnis ein möglichst kühler, objektivierter Blick ausreichen würde. Nationalsozialistisches Denken und Handeln, das einen Beitrag zu Rassismus und Gewalt, Krieg und Völkermord leistete, war überall. Im privaten Raum fragen Enkel und Urenkel nach den Beiträgen ihrer Familien dazu. Im öffentlichen und politischen Raum untersuchen große Forschungsprojekte die Verstrickung von Ministerien und Reichsbehörden in den Holocaust und die personellen und gedanklichen Kontinuitäten über 1945 hinaus, in die demokratische Geschichte der Bundesrepublik hinein.
Wolfgang Ruppert Es ist wichtig, in beiden Dimensionen zu denken, den allgemeinen Entwicklungen der politischen wie der künstlerischen Kultur, aber auch den konkreten Lebens- und Arbeitsräumen der Menschen. Wenn man „die Verantwortung des Historikers“ ernst nimmt, so richtet sich unser Erkenntnisinteresse auf die kultur- und sozialgeschichtlichen Grundlagen des Ortes, über den wir sprechen. Die Universität der Künste Berlin bindet alle Studiengänge zusammen, die wir unter dem Begriff Kunst zusammenfassen: Malerei, Bildhauerei, visuelle Gestaltung, Design, Musik und andere mehr. Diese integrative Institution wurde in der Folge der Gesamthochschulidee 1975 als „künstlerische und wissenschaftliche Hochschule“ in West-Berlin gegründet. Gemeinsam ist diesen Professionen, dass sie je spezifische Kompetenzen zur individuellen Gestaltung und Interpretation des ästhetischen Ausdrucks in intuitiven Formerfindungen beinhalteten. Hinzu kommen Erwartungen, die die Gesellschaft an diese künstlerischen Berufe mit ihren je eigenen Medien hat.
„Der Künstler“ wurde im 19. Jahrhundert in der Gesellschaft mit ideellen Zuschreibungen als kultureller Akteur aufgeladen. Damit handelt es sich um einen Beruf mit unterschiedlichen Professionen, der im 19. Jahrhundert in den neuen sozialgeschichtlichen Kontexten der bürgerlichen Gesellschaft umgeformt wurde und bis in die Gegenwart in epochentypischen Ausdrucksformen transformiert wird. Diese Vorgänge zu erforschen, ermöglichte einen veränderten Blick auf die ästhetischen Praktiken, die in der jeweiligen Gegenwart in den sehr unterschiedlichen Kunsthochschulen von Künstlerindividuen gelehrt wurden.
Mein Erkenntnisinteresse resultierte jedoch aus einer besonderen Station meiner Lebensgeschichte. Ich war zwischen 1985 und 1988 Mitglied des Sonderforschungsbereichs Bürgertum. Darin ging es um ein schärferes und empirisch gestütztes Bild insbesondere der Entwicklung der bürgerlichen Berufe, die durch je spezifische Kompetenzen und Leistungsprofile gekennzeichnet sind. Sie haben sich in der Regel in der „Sattelzeit“ der Moderne, wie ein wichtiger Schlüsselbegriff Reinhard Kosellecks lautet, in und nach 1800 herausgebildet. In diesem wissenschaftlichen Kontext begann ich mit der Erforschung der kreativen Professionen als Beruf. Seit meiner Berufung 1988 an die damalige Hochschule der Künste Berlin habe ich mich in einem wesentlichen Teil meiner Forschung mit der Geschichte „des Künstlers“ befasst, mit dem beruflichen Profil, dessen sozialen Strukturen sowie seinen kulturellen Formungen der Kreativität, womit er sich von den älteren Berufen des Handwerkerkünstlers und des Hofkünstlers unterschied. Die männliche Prägung wurde erst 1918 graduell aufgebrochen. Die Kunsthochschulen reagierten auf Veränderungen des Kunstbetriebs, die mit dem Modernismus der Kunst in der Weimarer Republik neue Ausdrucksformen auch in den Lehrbetrieb integrierten. Erst seit den sechziger Jahren trat eine Öffnung der Medien hinzu. In der Berliner Kunsthochschule sind die allgemeinen Entwicklungen in der deutschen Kunst- und Kulturgeschichte zu verfolgen. Diese Zusammenhänge zu erforschen und den verschiedenen Ausprägungen des Künstlerhabitus über das 20. Jahrhundert hinweg nachzugehen, habe ich in meiner Tätigkeit an dieser Institution als Teil meiner „Verantwortung als Historiker“ verstanden.
Paul Nolte In den letzten zehn Jahren hat die postkoloniale Perspektive diesen selbstkritischen Impuls weiter verstärkt. Sie fokussiert nicht zufällig besonders stark auf Institutionen des Wissens: auf Museen, deren Sammlungen auf ihre Herkunft befragt werden, auf Forschungsinstitute und auch auf Universitäten. Denn in einer Gesellschaft, die sich immer mehr als eine „Wissensgesellschaft“ versteht, muss die Klärung der Geschichte des Wissens und des Umgangs damit eine wichtige Rolle spielen. Wie wurde dieses Wissen generiert, hat man es anderen gestohlen, wer wurde dafür missbraucht oder gequält? Von diesen Fragen sind auch solche Institutionen des Wissens nicht frei, die erst nach 1945 als Neugründungen entstanden, oft sogar mit einem demokratischen und progressiven Impetus. Die 1948 gegründete Freie Universität ist dafür ein Beispiel. Sie bemühte sich darum, verfolgte und vertriebene jüdische Wissenschaftler*innen zurückzuholen, doch gab es unter den Professoren auch solche, die mit dem NS-Regime kooperiert hatten. In komplizierter Weise hat die Last der Geschichte die FU in den letzten Jahren eingeholt. Sie bezog in Dahlem Gebäude der früheren Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, darunter des Kaiser-Wilhelm- Instituts „für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“ – und war in den letzten Jahren mit Knochenfunden auf dem Campus konfrontiert, mit den Überresten ermordeter Menschen, an denen dort geforscht worden war. Zugleich steht die Namensgebung des zentralen Hörsaalgebäudes aus den 1950er Jahren zur Diskussion: Ist der Henry-Ford-Bau nach dem legendären Gründer der Detroiter Automobilwerke benannt, der ein schlimmer Antisemit war, oder nach dessen Enkel, der die Ford Foundation in der Nachkriegszeit leitete? Auch die UdK Berlin muss sich solchen Fragen stellen. Sie ist auf den ersten Blick ein Kind der unschuldigen, ja der besonders emanzipatorisch-progressiven 1970er Jahre, und schleppt doch nicht nur den Stolz, sondern auch die Last ihrer Vorgängerinstitutionen mit sich herum.
Wolfgang Ruppert Überblickt man das 20. Jahrhundert, so zeichnen sich markante Zäsuren in der Berliner Kunsthochschule ab. Bis 1924 existierten die Hochschule der bildenden Künste, gegründet 1875, und die Kunstgewerbeschule (Unterrichtsanstalt), gegründet 1867, in einem hierarchischen Verhältnis von „hoher Kunst“ und auf das Leben bezogenen Künsten nebeneinander. Mit der Revolution von 1918/19 wurde die schon länger erhobene Forderung nach gleichberechtigten Entfaltungschancen der künstlerischen Professionen auch politisch gestützt. Das preußische Kultusministerium setzte schließlich 1924 eine Neuorganisation durch: die „Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst“. Dort wurden akademisch-handwerkliche und modernistische künstlerische Arbeitsformen nebeneinander gelehrt. Mit dem Sieg der NS-Bewegung 1933 bekam die Rückkehr zur akademischen Kunst sofort hohe kulturpolitische Priorität, unterstützt durch Entlassungen der politisch und künstlerisch Missliebigen. Die nun die Hochschulleitung kontrollierenden Künstler kamen aus der Hochschule und dem Kampfbund für deutsche Kultur. Die Hochschule wurde nun im nationalsozialistischen Sinn reformiert. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ im Frühjahr 1945 organisierten Künstler*innen, die in unterschiedlicher Weise als NS-Gegner überlebt hatten, einen Neubeginn in der Hochschule für bildende Künste (HfBK). Ein vorher verfemter Künstler wie Karl Hofer als Direktor oder der Expressionist Karl Schmitt-Rottluff übernahmen die Lehre. Ich habe in meinem Anfang 2023 erscheinenden Buch über „Nazi-Künstler“ diese Beziehung zwischen der NS-Bewegung und einem Teil der Künstler untersucht, die in ihren Biografien mehrere Regimewechsel und künstlerische Phasen durchliefen.
Paul Nolte „Die Verantwortung des Historikers“: Danach fragt dieses Gespräch. Diese Verantwortung ist angesichts eines immensen „Geschichtsbedarfs“, der sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen westlichen Gesellschaften, ja global artikuliert hat, nicht geringer geworden. Historiker*innen sind gefragt, sie schreiben Gutachten, sie besetzen Expert*innenkommissionen, die sich mit der Geschichte von Institutionen oder mit den möglichen Formen der Erinnerung und des Gedenkens beschäftigen. Aber die Rolle der professionellen Historiker* innen ist zugleich komplizierter geworden; ihr Gewicht vielleicht sogar schwächer. Denn die Erkundung der Vergangenheit ist kein Reservat des akademischen Elfenbeinturms mehr, sondern hat die ganze Gesellschaft erreicht, hat unsere Kultur tief durchdrungen, und vor allem: jeden einzelnen Menschen erreicht, in seiner Betroffenheit, in schuldiger oder unschuldiger Traumatisierung. Die Geschichte ist zu einem Handlungsraum der Zivilgesellschaft geworden. Expertise bleibt hier wichtig – aber Expertise kann individuelle Erfahrungen nicht ignorieren und schon gar nicht widerlegen. Professionelle Historiker* innen müssen eine Gratwanderung vollbringen: Ihre Expertise, ihre besonderen Kenntnisse und Methoden bleiben wichtig. Wichtig bleibt auch der wissenschaftliche Impuls der Kritik. Es ist aber eine andere Rolle hinzugekommen: die der dienenden Ratgeber*innen zivilgesellschaftlicher Selbsterforschung von Geschichte. Ihre besondere Verantwortung liegt dann darin, Treuhänder*innen der kollektiven Erinnerungsarbeit zu sein.
Prof. Dr. Paul Nolte leitet den Bereich Neuere Geschichte / Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Prof. Dr. Wolfgang Ruppert lehrt Kultur- und Politikgeschichte an der UdK Berlin. Die Ringvorlesung „Erinnerungsarbeit. Zur Institutionsgeschichte der UdK Berlin“ ist konzipiert und organisiert von Juliane Aleithe und Maren Wienigk. Termine auf Seite 28