AFTERLIFE IN TRANSITION, LAURA BLÜGGEL, 2021

Friedhöfe sind einzigartige, mit Bedeutung aufgeladene Orte. Sie sind die letzte Ruhestätte für Verstorbene und physische Räume der Trauer, Erinnerung und der Sepulkralkultur. Doch Friedhöfe erfüllen nicht nur emotionale Funktionen. Sie nehmen in Bezug auf soziale und ökologische Aufgaben in städtischen Gebieten eine essenzielle Rolle ein. Als Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten bereichern sie das urbane Ökosystem. In dicht besiedelten Innenstadtbereichen dienen sie als grüne Erholungs- und Ruheorte. Friedhöfe sind darüber hinaus lebendige Zeugnisse der Vergangenheit, die von gesellschaftlichen, religiösen, politischen, ästhetischen und demografischen Einflüssen geprägt werden. Sie fungieren gewissermaßen als sich wandelnde Zeitkapseln und Gärten der Erinnerung, die die Geschichte und Entwicklung einer Region widerspiegeln.

Als städtische Räume sind Friedhöfe unmittelbar von demografischen Entwicklungen sowie gesellschaftlichem und kulturellem Wandel betroffen. In der mitteleuropäischen Bestattungskultur zeichnet sich in den letzten Jahren der Trend ab, dass Feuerbestattungen zunehmend die traditionellen Erdbestattungen ablösen. In entwickelten, liberalen Gesellschaften stehen Selbstverwirklichung und Kommunikation statt Besitz und Vermögen im Vordergrund. Mit diesem Wertewandel lässt sich auch die zu beobachtende Individualisierung erklären, welche den Umbruch familiärer Strukturen zur Folge hat. 

Menschen erleben heute einen größeren Drang nach Flexibilität bei der Gestaltung und Verwirklichung ihres Lebens. Das wirkt sich auch auf ihre Mobilität aus. Immer häufiger entscheiden sich Familienmitglieder nicht mehr dafür, ihr ganzes Leben an einem Ort zu verbringen, sondern bevorzugen ortsungebundene Lebensmodelle. Diese Veränderung beeinflusst auch das Trauer- und Bestattungsverhalten: Erdgräber, die viel Pflegeaufwand erfordern, werden immer seltener gewählt. Stattdessen steigt die Nachfrage nach pflegearmen oder pflegefreien Urnengrabstätten sowie Urnenwänden, um den Anforderungen dieser neuen Lebensmodelle gerecht zu werden.
 
Die Entwicklungen in einer globalisierten und vernetzten Welt beeinflussen auch den Umgang mit Trauer und werfen neue Fragen zur Existenz von Trauerstätten auf: Braucht die mobile Gesellschaft überhaupt noch einen festen Ort für Trauer? Eine Tendenz zeigt sich in der Veränderung der Materialität im Kontext von Trauer, etwa Artefakte wie Aschediamanten. Ungewöhnliche Grabsteine mit Aufschrif-ten wie „Game Over“ oder „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe“ repräsentieren einen neuen Zugang zu Tod und Bestattung. Viele Menschen suchen nach individuelleren und ortsunabhängigen Möglichkeiten, ihre Trauer auszuleben. Hierbei spielt auch die Trauerbewältigung und das Gedenken an Verstorbene im digitalen Raum eine Rolle. Das Entzünden von virtuellen Kerzen, die Errichtung von Gedenkstätten oder das Schreiben von Kondolenzbucheinträgen – all das ist heute auch online möglich. Die „Straße der Besten“ beispielsweise ist ein virtueller Friedhof, auf dem Angehörige kostenfreie Gedenkseiten für Verstorbene erstellen können. Dort können sie Fotos hochladen, Texte verfassen und einen digitalen Gedenkort auswählen, an denen die Gedenkstätte platziert werden soll.

Start-ups mit Angeboten im virtuellen Raum sind Teil einer ganzen Industrie, die sich auf Services rund um den digitalen Tod spezialisieren und vom Oxford Internet Institute als „Digital After-Life-Indus-try“ bezeichnet werden. Es gibt aber auch sogenannte Re-Creation Services, die eine Art digitale Unsterblichkeit versprechen: ein zweites Leben als Chatbot. Bei diesen Dienstleistungen kann man sich bereits vor dem eigenen Tod anmelden und die Unternehmen mit Daten rund um die eigene Person füttern, bis ein detailliertes virtuelles Abbild entsteht. Die KI hilft im Sinne des Machine Learning dabei, das Erlernte weiterzuentwickeln und auszubauen. Der Chatbot lernt typische sprachliche Merkmale wie Tonalität, Redewendungen und andere Besonderheiten, die eine Person charakterisieren, damit Hinterbliebene auch nach dem Tod weiter zu der verstorbenen Person „sprechen“ können. Welche psychologischen Folgen solche Re-Creation-Angebote bei Hinterbliebenen mit sich bringen können, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass die ständig aktiven, ortsungebundenen Chatbot-Alternativen im Vergleich zu dem Trauerprozess auf Friedhöfen mit geregelten Öffnungs- und Schließzeiten dafür sorgen könnten, dass die Grenzen zwischen Leben und Tod sowie Erinnerung und Gegenwart immer mehr verschmelzen und das Abschiednehmen und die Trauerbewältigung dadurch vor neue Herausforderungen gestellt werden. 

All diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass der Bedarf an größeren Bestattungsflächen für Erdgräber auf Friedhöfen sinkt. Die entstehenden Flächenüberhänge stellen Friedhofsbetreibende vor schwerwiegende finanzielle Herausforderungen. So stellen sich Fragen nach neuen Nutzungskonzepten, besonders in Großstädten. Wie müssen diese freien Flächen, die sich häufig inmitten belebter Stadtbezirke befinden, gestaltet sein, um sowohl Akzeptanz in der Nachbarschaft zu finden, als auch die Ansprüche einer klimaangepassten und kompakten Stadt zu erfüllen? In Berlin gibt es bereits einige Beispiele von vollständigen Umwidmungen von Friedhofsflächen: von Parks über Wohnraum – aber auch Funktionserweiterungen, bei denen Teile der Friedhofsfläche für Cafés, Gemeinschaftsgärten oder andere Sozialprojekte genutzt werden. Betrachtet man Friedhöfe als sich ständig wandelnde Orte, wird deutlich, dass es in Zukunft immer wieder notwendig sein wird, die Nutzungsmöglichkeiten und deren gesellschaftliche Akzeptanz neu zu verhandeln, zu diskutieren und zu erforschen.

Der Text ist ein bearbeiteter Auszug aus der Bachelorarbeit von 
Laura Blüggel „Transformation von Friedhöfen am Beispiel Berliner Pilotprojekte“, Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation, 2021.


Die vollständige Arbeit finden Sie hier.