Society for Nontrivial Pursuits

Open Source, Open Sharing

Wenn Wissen und Ressourcen hilfsbereit geteilt werden, können gemeinsam weit komplexere Projektideen entwickelt und realisiert werden als in Einzelprojekten. Die breite Palette an künstlerischen und technischen Kompetenzen, die die Studierenden einbringen, ermöglicht interdisziplinäre Arbeitsweisen: Wir versuchen, die Kooperationskultur von Open Source Communities (wie etwa der Community um die Programmierumgebung SuperCollider, in der Hannes und Alberto schon sehr lange mitwirken) weiterzudenken hin zu einer Kultur der Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme im Umfeld künstlerischer Kreativität. Die Open-Source-Mentalität lädt auch zur Schaffung von Bausteinen durch verschiedene Personen ein, die geändert, angepasst und in neuen Projekten neu kombiniert und in Zukunft wiederverwendet werden können. Sie ermöglicht es, Technik in den künstlerischen Prozess einzubinden, wobei ein Werkzeug nicht nur ein Werkzeug, sondern auch Teil des Werks ist.

Second Order Cybernetics

Eine wichtige Quelle der Inspiration ist die Kybernetik zweiter Ordnung, die (wie von Margaret Mead und Heinz von Foerster vorgeschlagen), Systeme und Beobachtende nicht separat denkt (Beobachtende lernen ein System zu beherrschen), sondern so, dass Systeme und Beobachtende stets zusammen das nächstgrößere beobachtbare System bilden. Second Order Cybernetics postuliert, dass Systeme mit interessantem (nicht trivialem) Verhalten auf Prozessen beruhen, in denen Kausalität zirkuliert: Die Reaktion des Systems hängt nicht nur vom Input von außen ab, sondern auch vom inneren Zustand, vom Gedächtnis des Systems. Diese Sichtweise von Systemen als Netzwerke von Einflüssen finden wir inspirierend für Künstler*innen: Wir versuchen, Prozesse zu erfinden, die das Potenzial haben, auch uns selbst als Autor*innen zu überraschen. Das geschieht durch Einladung zum gemeinsamen Erarbeiten von Themen, über die die Lehrenden auch selbst, zusammen mit den Studierenden, mehr lernen wollen. Praktisch-technisches Lernen ist dann Nebeneffekt der Forschung an inhaltlichen Fragen. So entwickeln sich neben Einzelarbeiten oft auch Arbeiten von kleinen Teams bis hin zu komplexen Gruppenprojekten. Hier präsentieren wir einige dieser Gruppenprojekte, um über die Arbeitsprozesse und die gewonnenen Einsichten zu reflektieren:

„deep sea / Utopologies“, 2019

 Quelle: Anne Wellmer

„Varia Zoosystematica Profundorum. Experimental studies in deep sea communication“, 2010-12, und „Utopologies“, 2018-20
Inspiriert von der Arbeit von Louis Bec und  Vilém Flusser (Vampyroteuthis Infernalis) entwickelten wir 2010 Modelle für die Kommunikation imaginärer Lebewesen in der Tiefsee: Eine Horde von Agenten mit physischem Körper und Computergehirn simuliert Aspekte des kommunikativen Verhaltens erfundener Tiefseekreaturen. Sie übermitteln einander Symbole („Buchstaben“), die jedes Individuum zu längeren Ketten („Wörtern“) zusammensetzt; wenn ein Agent/eine Kreatur ein Wort gesammelt hat, das er/sie für bedeutsam hält, drückt er/sie dieses Wort aus, indem er/sie Töne, Licht oder Bewegungsmuster aussendet. Manche Kreaturen erzeugen rhythmische Pulsfolgen, manche fast melodische Phrasen. Andere lassen Farbschattierungen auf ihrer Haut aufblitzen, wieder andere schweben als Reaktion auf die Konversation zwischen ihnen im Raum auf und ab. In diesem Projekt haben wir erfahren, wie motivierend Ausstellungsmöglichkeiten außerhalb der UdK sein können, da wir die Arbeit im Rahmen der SuperCollider Konferenz 2010 in Berlin im Großen Wasserspeicher und später im Campus ars electronica zeigen konnten. Die technische Komplexität der Arbeit war eine echte Herausforderung, die wir nur dank der breiten Kompetenzen und der Einsatzbereitschaft aller Beteiligten meistern konnten. In der Serie „Utopologies“ haben wir diese Idee weiter verfolgt. 
Siehe hier.
 

Live Coding

Performer*innen schreiben Code, der Klangstrukturen auf allen vernetzten Laptops verteilt erzeugen kann; sämtlicher lau-fender Code wird in einer gemeinsamen History geteilt, sodass alle die gespielten Code-Snippets wiederholen oder durch Umschreiben variie-ren können. Bei „Republic111“ (2011-16) war das Konzept, dass alle im gleichen Raum in einem lokalen Netzwerk spielen, mit den Laptops als vollwertigen Instrumenten, inklusive Lautsprecher (vgl. Powerbooks_ unplugged). Das erlaubt einen improvisierten gemeinsamen Komposi-tionsprozess in Echtzeit, quasi eine laufende Live-Montage von geteil-ten Klang-Elementen. Als inklusiver Einstieg für Lernende mit wenig Coding-Erfahrung hat sich diese Praxis auch didaktisch bewährt, da man rasch ein Gefühl für die flexible Gestaltbarkeit von Code erfahren und gleichberechtigt mitspielen kann.

„HyperDisCo“, seit 2020, entstand aus der Notwendigkeit, während der Covid-Lockdown-Phasen Kurse mit Coding-Aspekten online zu halten. Bruno Gola hat dafür zunächst einen TCPOSCRouter geschrieben, der die lokalen Netzwerk-Messages über das Internet weiterleitet; mit der darauf basierenden Code-Library „HyperDisCo“ kann das gleiche Stück, während es gemeinsam live geschrieben wird, annähernd synchron auf allen vernetzten Rechnern erklingen, mit gestaltbaren Graden lokaler Variation. Mit diesem Konzept spielten wir auf der Weizenbaum-Konferenz zu digitaler Partizipation „Practicing Sovereignty / Interventions for open digital futures”, 2022. In seiner Abschlussarbeit kombinierte Bruno Teile von „HyperDisCo“, TCPOSCRouter und anderen Software Tools, die in Projekten des Kurses verwendet wurden, um seine eigene kollaborative Live-Coding-Plattform „c0l1v3“ zu schaffen, die von mehreren Personen gleichzeitig über das Internet nur mit einem Webbrowser gespielt werden kann. So können die Teilnehmer*innen mit ihren Laptops oder Mobiltelefonen remote oder lokal an der Performance teilnehmen, ohne eine spezielle Software installieren zu müssen.

Lose Control, Gain Influence – playing complexity by intuition

Das „Nontrivial Musical Instrument NTMI“ ist ein Langzeitprojekt seit 2017, bei dem wir immer wieder neue Entdeckungen und Verzweigun-gen finden: Inspiriert vom experimentellen Instrumentenbau-Projekt „3DMIN“ hatte unser Mitglied Isak Han, Absolvent im Studiengang Pro-duktdesign, eine Idee für einen handheld controller in Tellergröße, der die Idee des intuitiven Spiels mit komplexer Klangsynthese verkörpern sollte. Für den Prototyp hat Isak einen Plastikteller mit Bewegungssen-sor versehen. Hannes schrieb den ersten Code dafür, um Synthese-Pro-zesse auszuwählen und mit Bewegung intuitiv zu spielen. Aus diesem Prototyp hat Isak als sein Abschlussprojekt schrittweise das „nUFO“ designt. Die im „nUFO“ verkörperte Spielstrategie hat sich als so in-teressant erwiesen, dass wir die (SW-)Codebasis nach und nach für an-dere, übliche Interfaces wie Gamepads und Faderboxen erweitert ha-ben. Da der Code open source publiziert ist, können Musiker*innen das „NTMI“ mit ihren eigenen Presets, Klangprozessen und Interfaces für ihre künstlerischen Ideen weitgehend adaptieren.
Siehe hier.

Isak Han spielt das nUFO.

 Quelle: Yong Ju

„FutureVoices“
Seit 2021, wurde für eine Ausschreibung von ctm-fes-tival, DLF Kultur und ORF Ö1 konzipiert: ein generativer Radiostream, der zunächst ein Jahr lang nonstop laufen und als Pausenprogramm im öffentlichen Rundfunk eingesetzt werden sollte. Wir haben hier die Autor*innenschaft auf teilnehmendes Publikum erweitert, indem Hö-rer*innen auf der Website ihre Erwartungen, Befürchtungen, Hoffnun-gen oder Vorhersagen für unsere gemeinsame Zukunft einsprechen können, die dann in den generativen Stream eingewoben werden. In Kontrast zur Aufmerksamkeitsökonomie der meisten Social Media gibt es hier keine Belohnungsmechanismen; insofern handelt es sich um eine Einladung zu langsamer, sorgfältiger Kommunikation. Die Viel-sprachigkeit der Beiträge und generativen klanglichen Bearbeitungen der wechselnden Kompositions-Episoden verschieben je nach Hörer*in das Gewicht zwischen Sprache als Bedeutungsträger und Sprache als Klangphänomen. Da das Projekt in Echtzeit läuft und der Code für In-terventionen zugänglich ist, ist „FutureVoices“ gleichzeitig ein Per-formance Set-up: In mehreren Take-overs haben wir die Auswahl der Stimm-Aufnahmen auf bestimmte Themen fokussiert, so etwa auf die politischen Unruhen in Kolumbien im Mai 2021, zu denen Projektmit-glied Juan Pablo Gaviria Bedoya Tonaufnahmen recherchiert hat. Als Streaming Radio läuft FutureVoices weiter: siehe hier.

„NeuralLabyrinths“, performance installation, seit 2022
Das Ausgangskonzept stammt von Alberto de Campo und entstand auf Einladung der Klangkunst-Plattform Singuhr zum David-Tudor-Festival „unexpected territories“ in Berlin. Es vereint viele Elemente, die Tudor liebte: Feedback-Systeme als generative Klangwellen, resonierende Objekte als Klangfilter, das Set-up gemeinsam zu komponieren und Performances mit dem Set-up gemeinsam zu improvisieren. Sechs Stationen mit jeweils einem Raspberry Pi mit sound processing code, einem Vintage-Lautsprecher und Mikrofon und einem Resonator-Objekt und Kontaktmikrofon bilden Feedback-Schleifen. Das menschliche Eingreifen in das System besteht zunächst in der Auswahl der Objekte, die als Resonatoren dienen, und im Stimmen und Spielen mit den elektronischen und digitalen Parametern der Station. Die Stationen sind auch über elektrische Audio-Signale verbunden, sodass sie ein Netzwerk von Feedback-Wegen bilden und der Sound von jeder Station auch in zwei andere Stationen fließt. Für die Premiere nutzte Liz Allbee einen Wetterballon als Resonator und bespielte das System zusätzlich mit ihrer quad-trumpet als Klangquelle; Anne Wellmer lieh sich eine lange Feedback-Saite aus einem anderen Stück (SixStrings); Ioana Vreme Moser brachte eine Metallskulptur als Resonator mit, einen selbstgebauten Lautsprecher, und bespielte diese u. a. mit selbst gebauten Electronica; Hannes Hoelzl baute für das Projekt eine Art Resonanz-Harfe aus Metallstreifen; Alberto zitierte Marcel Duchamp mit einem Flaschentrockner, befüllt mit einer großen Auswahl diverser Flaschen und Dosen. „NeuralLabyrinths“ kann als Klanginstallation selbstständig spielen – mit Selbstbeobachtung durch Machine Listening – und Besucher*innen können über intuitiv spielbare Interfaces eingreifen.
Siehe hier.

„Five Elements of Berlin Biophony“ 2023,
balancierte zwischen Ironie und künstlerisch transformierender Naturbeobachtung: Nach Überschreibung der ersten Natur durch die Stadt und ihre Infrastruktur unternimmt das Projekt eine Expedition zur spekulativen Erforschung und Hörbarmachung der sich ausbreitenden zweiten Natur und ihrer Kreisläufe. Das Konzept wurde von Ariane Jessulat, Kirsten Reese und Alberto de Campo entwickelt. Vergleichbar mit einer Matrjoschka wurden künstlerische Räume in bestehenden und fiktionalen Räumen auf der Mittelinsel des Ernst-Reuter-Platzes als solche diagnostiziert und verfügbar gemacht, erkundet, bespielt, erneut analysiert und transformiert.
Siehe hier.

„xConnect“, seit 2023
Dieses Konzept verfolgt die Idee, diverse Systeme zu vernetzen, im Prinzip möglichst alles mit allem zu verbinden: frühere Projekte, Instrumente, Set-ups, Environments, Datenquellen und anderes mehr. Das ist eine weitere Bewegung weg von linearer Kausalität und Kontrolle hin zur Komplexität von Netzwerken von Einflüssen, die gleichzeitig auf laufende Prozesse einwirken können. Solche Systeme kann man auch als kollektive Instrumente verstehen, die bewusst dafür gestaltet sind, von mehreren Personen gleichzeitig gespielt zu werden. Ein solches Interface, „The Kraken“, hat Kuntay Seferoglu kreiert. Aus dem Experimentieren mit „xConnect“ entstand die neueste Weiterentwicklung des „NTMI“:

The Kraken, Kuntay Seferoglu, 2023

 Quelle: Alberto de Campo

Absolute Relativity

Wenn alle Einfluss-Quellen (Interfaces, andere Pro-zesse, Sensordaten) den Zustand des zu spielenden Systems (d. h. die aktuellen Werte seiner Parameter) respektieren und ihm nur relative Änderungen schicken, dann erlaubt dieses Modell, Netzwerke von Prozessen zu bauen, die einander polyfon beeinflussen. Die Agency in solchen Systemen kann sich so auf humane und non-humane Elemente verteilen und mischen, dass Autor*innenschaft zwar für die gebauten Elemente des Systems konstatiert werden kann, aber die gemeinsame Performance prinzipiell von allen agierenden Elementen gemeinsam geschaffen wird. In der ersten Aufführung mit Absolute Relativity hatte ein nonhuman actor eine zentrale Rolle, die Flatcat: ein robotisches Haustier, das einer abstrahierten Katze nachempfunden ist. In ihren Bewegungen kann sie auf die Menschen reagieren, die mit ihr interagieren, und diese Bewegungsdaten beeinflussen die Klangpparameter, parallel zu den menschlichen Performer*innen. Wenn sie eine sehr große Bewegung macht, löst das manchmal einen Call for Change aus, und ein Teil der Performer*innen wird per Computerstimme beauftragt, etwas an ihrem Spiel zu ändern. Damit bekommt die Flatcat eine Art Diri-gentenrolle, die die menschlichen Performer*innen relativ beeinflusst.
Wir verstehen die Weiterentwicklung der Klasse und der Society als komplexen sozialen Prozess, den wir beobachten, reflektieren und durch Interaktion mitgestalten. Wir experimentieren laufend mit Kombinationen von Arbeitsweisen – Learning by Doing, großzügiges Teilen und Rekombinieren von Wissen, Code, Bausteinen, spielerischer Umgang mit Technologie und Projektstrukturen, Performance-Installationen mit verschiedenen Graden von Autonomie und Interaktion, kollektive Instrumente, Konzerte und Ausstellungen, die sehr unterschiedliche Arbeiten gegenüberstellen. Einige der Ideen, Einsichten, Richtungen und entdeckten gemeinsamen Interessen, die sich aus die-sem offenen Prozess ergeben haben und weiter entfalten, haben auch uns als gestaltende Beobachter*innen des Prozesses durchaus überrascht, und wir hoffen auf weitere Überraschungen in der Zukunft. 

Prof. Alberto de Campo leitet die Klasse Generative Kunst / Computa-tional Art seit 2009; Hannes Hoelzl hatte ab 2009 Lehraufträge und war von 2012 bis 2022 künstlerischer Mitarbeiter; Anne Wellmer hat seit 2017 Lehraufträge. Bruno Gola, Absolvent des Studiengangs Kunst und Medien, ist seit 2023 künstlerischer Mitarbeiter.

 
PS: Society for what? Die erste Exkursion der Klasse ging 2011 zur Heinz-von-Foerster-Konferenz in Wien. Wir spielten ein Konzert unter dem Namen GenComp Collective. Auf der Rückreise fanden wir einen passenderen Namen: Society for Nontrivial Pursuits, in Anspielung auf einen Geheimbund, das Spiel Trivial Pursuit und auf Foersters Schlüsselkonzept der Nicht-Trivialität. Seither verwenden wir ihn für unsere Klasse und ihre Community für Außenaktivitäten wie Ausstellungen, Konzertevents, Festival- und Konferenzteilnahmen. 
Siehe hier.