Der Funke und die Überraschung

Seite aus einem Skizzenbuch

 Quelle: Julia Hülsmann

Die Jazzpianistin und Komponistin ist in klassischem Jazz wie in Crossover zu Hause. Auf der Bühne ist sie mit Soloprogrammen und mit Bigbands zu sehen, mit ihrem Oktett oder mit ihrem Trio, mit dem sie seit 20 Jahren spielt. Wir treffen sie, um mit ihr über die Beschäftigung mit einer musikalischen Idee zu sprechen, darüber, wie man einen Anfang und ein Ende findet, über intuitives Handeln, über Muster verstehen und brechen. Und über Störungen und Rauschen – wie man sie erkennt, zulässt oder lenkt. 
 

Wie schreibt man ein Lied?
Ja, das ist die große Frage. Das Wichtigste ist vielleicht zu verstehen, dass man nicht sofort ein perfektes Ergebnis haben kann und muss. Es ist ein sehr individueller Prozess, und dabei kann man auch herausfinden, wie man selbst funktioniert. 

Wie ist Ihr Prozess?
Es kommt darauf an, ob ich für einen bestimmten Anlass schreibe, also einen Auftrag habe, oder ob ich frei bin. Grundsätzlich sitze ich meistens am Klavier, und beim Spielen fällt mir etwas auf, ein Akkord, der mir besonders gut gefällt. Den schreibe ich auf in mein Skizzenbuch. Skizzenbücher sind für mich elementar wichtig – ich habe sehr viele davon, mit Notizen, Fetzen, Tonabfolgen, Textpassagen. Unsortiert und überhaupt nicht geordnet. Ich zeige sie auch gern den Studierenden, damit sie eine Vostellung davon bekommen, wie chaotisch der Prozess sein kann. Die Notizen sind manchmal einfach nur schwarze Punkte, verstreut auf dem Blatt – ich weiß eben, was sie bedeuten, Noten ohne Rhythmus und ohne Hälse, daneben unterschiedliche Ideen. Es ist wichtig, dass man einserseits frei ist, alles machen zu dürfen, und das gleichzeitig aber auch festzuhalten, damit die Ideen nicht verloren gehen. Es gibt ja diesen Funken – der kann aber auch ganz schnell wieder weg sein.

Eine Materialsammlung, auf die Sie zurückgreifen? Und Sie können sich auch immer an den Funken erinnern? 
Nö, nicht immer. Es kommt vor, dass ich alte Skizzenbücher heraushole, weil ich irgendetwas brauche. Wenn ich sie durchblättere, sehe ich auch, was aus einer Idee geworden ist. Oder ich finde eine andere, die ich vielleicht vor zehn Jahren hatte, und die ich wieder aufgreife – man entkommt sich selbst ja so schlecht, man hat so seine Vorlieben …

Ein Kampf gegen das Sich-Wiederholen?
Genau. Bestenfalls wird das irgendwann zum eigenen Stil, den man immer weiterentwickelt.  

Sie halten also den Funken fest. Benutzen Sie dann auch gleich diesen Moment und schauen, wohin er Sie führt?
Man kann ja nicht immer gleich weiterarbeiten. Und manchmal gefällt einem der Funken am nächsten Tag auch gar nicht mehr. 

Gehen Sie von der Melodie aus oder vom Text?
Wenn ich für Gesang schreibe, dann geht es darum, einen Text zu vertonen. Ich schaue  zuerst, wie ich mit ihm arbeite. Dieser Anfang ist immer sehr spannend, weil alles noch unkonkret ist. Man kann fantasieren, spielen, sich fragen, was ist das überhaupt für ein Stück? Welche Stimmung hat es? Ist es ein lautes oder ein leises Stück, ein schnelles, ein langsames? Das alles kann sich beim Machen auch noch einmal verändern. Das Ausarbeiten ist dann das Mühsame. Mein Ansatz ist oft, dass ich den Text rhythmisiere. In meinen Heften habe ich Texte, die mehrmals und unterschiedlich rhythmisiert sind, weil es zunächst nicht funktioniert hat. 

Wie sieht das aus?
Ich schreibe über die Wörter einen Rhythmus, der ihnen entspricht. Wie langgezogen ist die Silbe, ist es eine halbe Note oder nur eine Achtelnote, ist es staccato oder legato usw. Das ist gleichzeitig eine Art Groove, den ich zu bauen versuche. Ist der klar, bestimme ich die Taktart. Taktwechsel kommen bei mir oft vor, wenn ich finde, dass der Text sie braucht. 

Wie besetzen Sie dann die Stimmen?
Ist der Rhythmus des Textes da, schaue ich, welche Tonhöhe ich dafür finde. Das kann auch gleichzeitig mit den Akkorden passieren, nicht unbedingt nur für die einzelnen Stimmen oder auch nacheinander. Es gibt nicht die eine Methode, die immer gleich ist, man kann auch von einer ganz anderen Seite beginnen. Zum Beispiel von einem Akkord ausgehen, also von einer musikalischen Idee, und eine Akkordfolge komponieren. Kürzlich war eine Aufgabe, die ich meinen Studierenden gestellt habe, genau das: Ich habe den ersten und den letzten Akkord vorgegeben, und sie sollten die Akkorde dazwischen suchen und eine Melodie darüber legen. Total spannend, was dabei herausgekommen ist. Die meisten haben es am Klavier gemacht und selbst dazu gesungen. Und dann haben wir gemeinsam überlegt, was das jeweilige kleine Stück sein könnte. Für einen war es ganz klar Filmmusik, sogar für eine sehr konkrete Szene wie diese in „LaLaLand“, in der Emma Stone in einem blauen Kleid daherkommt. Oder eine Klavierballade, ein Musical, sogar ein Punkstück. Ein ganzer Pool von Ideen!

Der Weg verändert sich ja ständig im Prozess … Und jeder hat seine eigene Biografie und Können im Gepäck.
Das ist auch toll. Zu sehen, dass der Weg nicht festgelegt ist. 

Wann ist etwas fertig?
Eine gute Frage. Es gibt da einen Punkt, an dem ich denke, jetzt ist es gut. Den kann ich aber nicht erklären. Das finde ich auch sehr beruhigend, sonst wäre es ein Kochrezept. 

Gehen Sie noch einmal ans Stück?
Ganz selten. Es ist schwer genug, ein Stück fertig zu schreiben. Da ist immer viel Fleißarbeit. Was braucht das Stück noch? Braucht es viel, braucht es wenig? 

Der zweite Schritt also …
Am einfachsten ist, die Anfangsidee immer weiterzuspinnen. Vielleicht ist dieser zweite Schritt der schwierigste: Wo geht es überhaupt hin, was passiert mit der Kernidee? Es ist ganz beruhigend, dass auch große Komponisten sehr lange gesucht haben. Wie viele Skizzen zum Beispiel Beethoven zu seiner 5. Sinfonie geschrieben hat! Es ist super-interessant, sie nebeneinander zu stellen und zu hören. Das gebe ich gern als Beispiel, auch wenn es um Songwriting oder Jazz geht.

Man kann von jedem und allem etwas lernen.
Schließlich arbeiten wir alle mit zwölf Tönen. Einfach nur zu wissen, auch jemand wie er hat nicht einfach so ein perfektes Werk geschrieben, sondern ist lange Umwege gegangen und hat viel ausprobiert. Es steckt sehr viel Arbeit darin, bis man irgendwann sagen kann, das ist es. Deswegen ist ein aktives Suchen sehr wichtig. Eigentlich will ich, dass meine Studierenden die Seiten vollschreiben, mutig, mit Motiven, mit Motivverarbeitung. Wie wird eine Melodie weitergeführt? Später wählt man aus, was einem gefällt, was man weiterentwickeln will. Sehr gut sind Fehler zum Beispiel: Ich habe mich gerade verspielt, stelle aber fest, das ist ein schöner Grundton. Und dann kommt vielleicht ein ganz anderes Stück heraus. Oder im Prozess bemerkt man, das sind ja zwei verschiedene Ideen, also zwei Stücke, und die haben gar nichts miteinander zu tun. Welches lässt man, welches behält man … Ich möchte, dass die Studierenden Kreativität üben – das ist möglich.

Eine Komposition hat Farben, Nuancen, Bilder. Und sie sind für Sie andere als für Ihr Publikum. Wie ist es im Prozess? Haben Sie den Pinsel in der Hand, oder kommen die Farben und die Bilder zu Ihnen?
Wenn ein Text da ist, ist schon viel vorgegeben, viele Farben und Bilder. Die versuche ich dann zu unterstützen und zu verstärken. Oder zu brechen. Diese Frage nach den Farben habe ich auch im Kurs gestellt. Welche Farben sind es, die die Studierenden bei einer Komposition sehen? Manchmal geht es in eine Richtung, aber oft ist es sehr unterschiedlich. Eine Grunderfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass meine Farben nicht unbedingt die Farben sind, die dann alle sehen. Eines meiner Stücke heißt „Juni“, einfach weil ich es im Juni geschrieben habe. Nach einem Konzert sagte mir jemand: „Für mich war das ein sehr kalter Januar“, und für einen anderen war es ganz klar August. Das ist total schön, dass man es nicht in der Hand hat, was passiert, wenn man eine Farbe, eine Idee oder ein Bild herausschickt. Dazu gibt es sehr viele „technische“ Überlegungen. Ich muss die Theorie verstehen und wissen, was harmonisch passiert. 

Seite aus einem Skizzenbuch

 Quelle: Julia Hülsmann

Musik komponieren ist zum Teil sehr abstrakt. Wie haben Sie gelernt, in Ihrem Kopf die Töne zu hören, zusammenzusetzen?
Wenn ich das erklären könnte. Ich glaube, es hat viel damit zu tun, womit man aufgewachsen ist. Wir sind immer ein Produkt dessen, womit wir in Berührung gekommen sind. Meine ältere Schwester hatte einen großen Einfluss. Sie hat sich alles an Platten gekauft, was sie sich leisten konnte, und wir haben zu Hause viel Musik gehört. Später habe ich mir das her-ausgesucht, was mich emotional berührt hat. Eine sehr individuelle Mischung. Manchmal ist es schwer, darüber zu reden und zu analysieren, weil man das Gefühl hat, es damit zu entzaubern. Ich denke, da ist der Zauber lange nicht weg. Es ist sehr interessant zu verstehen, wie ein Stück gemacht und gebaut ist. Auch um später selbst bestimmte Techniken anwenden zu können. Ich springe immer auf Stücke an, die zwischen Dur und Moll hin und her wechseln, bei denen es nicht ganz klar ist, was es ist. Es ist beides im Raum. Das finde ich faszinierend. 

Man führt ja einen Gedanken aus, einen musikalischen Gedanken. Und irgendwann erliegt man vielleicht der Versuchung, immer wei-ter zu erzählen. Wie bändigt man die Funken, wie kontrolliert man damit auch die zeitliche Ausdehnung eines Stücks?
Das ist tatsächlich ein großes Problem. Wie viel muss man erzählen, damit das Stück klar wird? Wichtig ist zu verstehen, was der Kern ist. Dem braucht man manchmal gar nichts mehr hinzuzufügen. Oder den Kern gut in Szene zu setzen, zu begleiten und diesen einen Kerngedanken weiterzuführen, nicht abzuschweifen, von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Das hat viel mit der eigenen Ästhetik zu tun. Wie soll die eigene Musik sein? Für mich ist Reduzierung wichtig – alles, was man nicht braucht weglassen. Das ist meine Ästhetik. Beschäftigt man sich so lange mit einer Idee, geht man in die Tiefe, und irgendwann kann man diese musikalische Idee nicht mehr hören. Deswegen neigt man dazu, immer neues Material dazuzuschreiben. Aber entweder ist die Geschichte schon erzählt, oder man sollte Platz lassen für Assoziationen, für Farben. Sie sollten eben nicht alle vorgegeben werden. Und: Man braucht ein Feedback. Es ist sehr hilfreich und effektiv, jemandem etwas vorzuspielen, der nicht involviert ist. Andere in den Prozess hineinzulassen. 

Und Sie lassen freie Räume für einen neuen Klang, der nicht in Ihrer Komposition ist, sondern der beim Zuhörer entstehen kann.
Ja, ein Beispiel, wie das sein kann, ist ein sehr eindrückliches melancholisches Stück von Randy Newman „In Germany Before the War“. Dort gibt es eine Stelle, an der die Gesangsmelodie einfach abgeschnitten ist, sie wird nicht weitergeführt am Ende des Refrains, wie man es formal er-wartet hätte. Dort ist es leer. Das Orchester spielt im Hintergrund weiter, aber die Melodie ist nicht da und auch kein Text – es wird nicht mehr gesungen. Und jetzt passiert etwas sehr Interessantes, es öffnet sich auf einmal ein Raum in der Stille. Und man fragt sich: Was war das letzte Wort, das ich gehört habe, der letzte Satz? Solche Momente finde ich total spannend und mich zieht es immer dahin. Das ist aber sehr individuell. Natürlich gibt es auch tolle Musik, die davon lebt, dass sie sehr voll ist, dicht. Wie eine Textur, die einem wie eine Wand gegenübersteht, z. B. bei „Knives Out“, Brad Mehldau Trio, oder bei „Up, Up and Away“, Arrangement von John Hollenbeck. Raum zu lassen ist aber auch beim Text wichtig – für die eigene Geschichte, die eigenen Bilder. Bei Texten, die abstrakter sind, arbeitet man mehr mit …

Was ist auf Ihrer Playlist?
Die ist lang ... Randy Newman ist für mich ein wichtiger Komponist, heute würde man Singer Songwriter sagen. Er müsste jetzt in seinen Siebzigern sein. Seiner Musik bin ich sehr früh begegnet – zu Hause gab es die Noten zu einer LP von ihm, die mein Vater besorgt hatte. Ich liebe The Police und bin ein sehr, sehr großer Sting-Fan. Das ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Sie hat mich sehr geprägt, auch weil ich auf vielen Konzerten war. Radiohead mag ich, aber auch Prokofjew oder Federico Mompou, den katalanischen Komponisten, ich liebe die Pat Metheny Group und auch Ani DiFranco. Dann gibt es einen Pianisten, Komponisten, der leider viel zu früh gestorben ist, Don Grolnick, kaum bekannt. Seine Stücke sind voller Überraschungen, da passieren Dinge, absolut unerwartet, auch an Stellen, an denen man sie nicht erwartet. Gleichzeitig spielt er mit üblichen Jazzformen. Diesen Kontrast mag ich. Ähnlich arbeitet Wayne Shorter, Saxophonist und Komponist. Ihn stelle ich auch gern meinen Studierenden vor. Grundsätzlich interessiert mich Musik, die nicht immer vorhersehbar, oder besser: vorherhörbar ist.

 

Julia Hülsmann ist Professorin für Klavier und Ensembleleitung im Jazz/Pop Bereich am Institut für Musikpädagogik.
Gespräch: Marina Dafova und Claudia Assmann. Text: Marina Dafova.