Navigating Noise
Sarnath Banerjee ist ein Geschichtenerzähler – schnell und gewandt, scharfsinnig und offen. Die Gedanken rauschen zwischen Fakt, Fiktion, Ironie und Ernst. Berühmt geworden ist der in Kalkutta geborene Künstler gleich mit seiner ersten Graphic Novel „Corridor“ (2004), eine der ersten in Indien. Inzwischen, selbst Verleger, hat er mehrere Bücher herausgebracht und sich in den unterschiedlichsten Genres ausprobiert – Oper, Film oder Installation. Die Quellen seiner schöpfterischen Energie sind Literatur, Musik und Pop-Kultur, Hindu-Mythen, Philosophie und Geschichte. Wie aber materialisiert sich ein Kunstwerk aus einem Ideenrausch?
Lärm, nehmen wir es wörtlich, ist ein zivilisatorisches Phänomen und Problem spätestens seit dem Industriezeitalter. Um die Wende zum 20. Jahrhundert viel thematisiert, und das nicht nur von Künstlern: 1908 werden beiderseits des Atlantiks sogar Anti-Lärm-Vereine gegründet, initiiert von einem Philosophen, Theodor Lessing in Berlin, und einem Schriftsteller, Mark Twain in New York. Wie still kann Stille überhaupt sein?
Es gibt verschiedene Arten von Stille. In amerikanischen Suburbs ist die Stille sehr steril – es ist ein Nichts. In einem Land in Südasien ist Stille ein sehr aktiver Raum. Da werden viele Dinge heruntergedrückt, gedämpft oder kontrolliert, um eine Stille zu erzeugen. Aber still ist es nie wirklich. Oder man braucht ein Geräusch, einer Grille oder von Nachtinsekten, um Stille wahrzunehmen.
Im kreativen Prozess ist es das Rauschen im eigenen Kopf. Versuchen Sie, es auszublenden? Oder springen Sie hinein in den Lärm?
Es gibt ja keine physische Methode, Lärm auszublenden. Manchmal kann man ihn umverteilen. Aber man braucht eine Menge Energie, Lärm zu reduzieren. Gerade im eigenen Kopf – zum Beispiel bei der Arbeit an einem Comic. Für jede einzelne Zeichnung gibt es mindestens ein Dutzend andere Ideen, die darauf lauern, von dir gezeichnet zu werden. Das ist das Rauschen – das Gehirn versucht, sich zwischen all diesen Möglichkeiten zu entscheiden. Ich glaube, eines der größten Probleme heute ist ohnehin, Entscheidungen zu treffen. Aus so vielen Möglichkeiten eine auszuwählen. Navigating choice …
… navigating noise …
Mir scheint, wir sind immer irgendwie in Panik, die richtige Wahl oder überhaupt eine Wahl zu treffen. Und wir alle sind hauptsächlich damit beschäftigt, dieses Grundrauschen zu reduzieren, einige Dinge beiseitezulegen, andere zu behalten. Unsere Gesellschaft aber ist auf ein Versprechen auf etwas Besseres aufgebaut. Auf Optimierung. Ob beim elektronischen Dating-Business oder bei Galerie-Openings, man optimiert unaufhörlich die eigenen Ressourcen. Weil man ständig den Eindruck hat, man ist unter seinen Möglichkeiten. Gerade auch Kinder oder junge Menschen, die heute heranwachsen.
Sie wachsen in einer sehr lauten Welt auf. Und sie finden ihren eigenen Weg, damit umzugehen – ob durchtauchen oder auf der Welle surfen.
Oft bin ich ziemlich überrascht, dass einige von ihnen wissen, wie man mit diesem Lärm umgeht, sie sind sehr selektiv, lassen Dinge einfach aus. Ich versuche, den Studierenden Zeichenübungen zur Entschleunigung zu geben. Wenn man sich mit seinem Skizzenbuch auf eine Bank in seinem Kiez setzt und zeichnet, wird man buchstäblich Teil davon. Zwar kennt man meistens seine Nachbarschaft, aber spürt sie nicht wirklich. Seltsamerweise bindet Zeichnen, viel mehr als Schreiben, einen wirklich an einen Ort. Durch eine solche künstlerische „Beschreibung“ trainiert man seine Konzentration und versucht sich einzufühlen. Das ist eine Art von Transzendenz.
Auch wenn man ein Porträt zeichnet?
Ja, wenn ich jemanden zeichne, fühle ich die Person wirklich, ich fühle ihren verborgenen Schmerz. Man entwickelt eine Empathie.
Man wird ein Teil davon, weil man etwas genau beobachtet und es dann auf Papier oder Leinwand bringt. In der Stille totaler Konzentration. Schreiben kann hingegen auch laut sein, weil man für den klaren Gedanken den Lärm in seinem Kopf loswerden muss.
Das ist wahr und es ist sehr wichtig. Diese Verbindung zwischen Schreiben und Zeichnen ist sehr schön. So habe ich noch nicht darüber nachgedacht …
Sie zeichnen und schreiben, wie funktioniert beides zusammen? Sie würden sich nicht als Illustrator beschreiben, oder?
Nein, ich kann kein Illustrator sein, weil ein Illustrator illustriert. Technisch gesehen bin ich Autor. Ich illustriere nie den Text. Denn was der Text sagt, sagt die Zeichnung nicht. Sie sind wie zwei verfeindete Mächte miteinander verbunden.
Sie ringen miteinander. Wer macht den ersten Schritt?
Die Frage ist, wer ist derjenige, der das Spiel beginnt? Wer folgt wem? Oder wen schauen wir zuerst an? Es gibt keine Hierarchie, weil Comics kompositorisch sind. Man macht Notizen, zeichnet, dann entwirft man einen Text. Alles ist in Bewegung. Man sieht selbst zu, wie sich das Ganze entwickelt. Was willst du mit einem Comic erreichen? Beim Text geht es um einen psychologischen Zustand oder um eine Tonalität. Der Ton, nicht nur als Ton, sondern auch als ein atmosphärischer Klang. Wenn es eine Melodie darin gibt, ist es ein melodiöser Comic.
Im kreativen Prozess öffnen sich meistens viele verschiedene Wegen und es gibt da so viele verlockende Dinge zu entdecken. Wie viel recherchiert man zu seinem Thema?
Zu viele Informationen verstärken das Rauschen. Es ist gut, Forschung zu betreiben, aber mein Rat ist, alles aufzuschreiben und es dann wegzuwerfen und loszuwerden, bevor man mit seiner Arbeit beginnt. Es ist wichtig, zur Ruhe zu kommen. Eine Technik zu entwickeln, die für einen selbst funktioniert – mit dem Fahrrad umherfahren, um das Tempelhofer Feld gehen. Langsam, um die Gedanken im Kopf zu synchronisieren. Manche können einfach sehr schnell und sehr viel zeichnen. Das kann zu einem kakophonischen Marktplatz werden. Dann sollte man sie dazu bringen, sich an die Themen oder Stimmungen zu erinnern, in die sie wirklich eintauchen möchten. Die Gedanken bändigen, schärfen. Die Stille suchen. Nicht geräuschlos, aber rauscharm. Denn dann ordnet man die Dinge. Am Ende müssen Bild und Text so nebeneinander stehen, dass sie zusammen einen Sinn ergeben. Ein Beispiel: Eine meiner Studentinnen beschäftigt sich gerade mit den historischen Gaslaternen im Tiergarten. Das Gaslicht hat für sie ein ganzes Universum eröffnet. Es geht um Licht und Dunkelheit. Durch die Straßenbeleuchtung ist die Dunkelheit weg, und wenn sie weg ist, bedeutet das, dass viele Dinge weg sind, die man nur in der Dunkelheit tun kann. Oder: Wie hat sich der Schlafzyklus verändert? So viele verschiedene Ideen. Ich kann das total nachempfinden, denn das passiert mir auch ständig – wir sind zu neugierig, um etwas zu ignorieren oder ziehen zu lassen. Und auch das ist noise. Wie kommen wir da wieder raus? Ich habe noch keinen wirklichen Weg gefunden, das Rauschen zum Schweigen zu bringen. Da gibt es diese Achtsamkeit und diese New-Age-y-Dinge, aber ich habe nichts gefunden, was funktioniert, außer das Älterwerden. Ich versuche, Text und Bild als Musik zu denken, als eine musikalische Komposition. Ich habe von der klassischen indischen Musik eine Menge gelernt, wie man das Rauschen in den Griff gekommt.
In welcher Hinsicht?
Wenn man klassische indische Musik hört, bringt sie einen auf verschiedene Pfade, zu verschiedenen emotionalen Zuständen. In der indischen Ästhetik, in allen Künsten gibt es die neun Rasas. Rasa ist die Essenz, der Kern allen künstlerischen Ausdrucks. Und Rasa beschreibt das Unbeschreibbare, den mentalen Zustand von Freude und Genugtuung, der sich beim Genuss eines Kunstwerks bei uns einstellt. Man versucht also nicht, die „Wirklichkeit“ abzubilden, im Gegenteil – man versucht, sie entlang der Parameter der jeweligen Kunst neu zu erschaffen. Genau mit diesen neun Kräften: Shringara (Schönheit), Karuna (Mitgefühl), Bhayanaka (Angst), Hasya (Lachen), Raudra (Zorn), Vira (Tugend), Bibhatsa (Ekel), Adbhuta (Neugier), Shanta (Zufriedenheit, Ruhe). Sie vermischen sich miteinander – in der Poesie oder Literatur oder Musik. Sehr deutlich kann man sie alle im klassischen indischen Tanz sehen – bei den Bewegungen der Augen oder der Hände zum Beispiel.
Eine interssante Mischung aus Emotionen und ästhetischen und moralischen Kategorien. Ist Rasa relevant in der Kunstproduktion heute?
Ja, aber wir benutzen sie nicht. Die meisten Menschen sind um eine westlich orientierte Lebensweise bemüht.
Rasa hilft also auch der Konzentration, der Lärmminderung im eigenen Kopf?
Vorübergehende Lärmreduzierung. Die Idee ist nicht, dass ich Geräusche illustriere, ich nehme sie nur irgendwie sehr wörtlich. Man muss sich dem Lärm hingeben. Das eigene Gehirn ist eh wie ein Pamukshop, wie der berühmte Pamukshop in Moabit, das beste Beispiel für organisiertes Chaos … Zeichnen ist für mich so etwas wie der letzte Ausweg. Es ist die einzige Möglichkeit, die ständige Kakophonie in mir zu unterdrücken. Und auch Musik. Beim Zeichnen geht es um Experimentieren, um eigene Projekte. Man schafft sich einen Rah-men dafür, und in meinem Leben dreht sich alles um Rahmen. Manchmal entscheide ich darüber, oft ist es jemand anders, der entscheidet.
Der Prozess ist dabei offen …
und der Rahmen ist die Anleitung. Wie schafft man diese Nicht-Kontextualität? Es ist wie beim Kochen. Ich glaube, es braucht eine Art Reife, im Laufe der Jahre zu erkennen, dass man nicht alle Gewürze, die man kennt, in sein Gericht steckt. Dass man zum Beispiel nur zwei Gewürzsysteme verwendet, wie ein Künstler, der auch nur eine begrenzte Palette benutzt. Es geht um die Komposition. Darum, was zueinander passt. Wenn ich zum Beispiel Schwarzkümmel und Knoblauch verwende, werde ich keinen Ingwer dazugeben, weil er bestimmte Geschmäcker unterdrückt.
Reifen ist auch ein Prozess …
Die Reife kam bei mir nur dadurch zustande, dass ich immer in einer Position der Verletzlichkeit war. In mei-nem Leben hatte ich nie das Gefühl, dass ich auf der Höhe der Zeit war. Es gibt ja diese arrivierten Menschen, die genau wissen, dass sie gut sind, die besten in ihrem Job. Die dieses Selbstvertrauen haben – wie die „Reservoir Dogs“ von Tarantino oder di Caprio als der „Wolf of Wall Street“ – Sie erinnern sich an diese Figuren. Ich bin mit Männern dieser Art aufgewachsen …
… vermutlich ohne blood, sweat and tears …
Mein Vater ist einer von ihnen. Dieses Selbstvertrauen habe ich nie gehabt. Und das hat mir ein bisschen geholfen, weil ich nie wirklich einen Ehrgeiz hatte, das zu werden, was ich jetzt bin. Was ich den Studierenden beibringe ist, dass Comics eine tiefere Bedeutung schaffen können, mit ihrem Rhythmus und Melodie etwas erreichen, das andere Medien nicht können. Sie können eine Atmosphäre schaffen, die den Betrachter wirklich an einen anderen Ort entführt. Durch eine Zeichnung. Und weil ich mich in einer verletzlichen Position befinde, kann ich immer noch Risiken eingehen. Die Ebene des Selbstvertrauens habe ich vielleicht nur drei oder vier Mal erreicht. Und das auch nur mit zwei oder drei Seiten.
Und wie hat sich das angefühlt?
Neutral, kein besonderes Glücksgefühl. Ich versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken, damit ich mich nicht zu schlecht fühle, wenn ich es die meiste Zeit nicht erreiche. Ich stehe morgens auf und arbeite. Ich zeichne und ich schreibe. Und das, denke ich, ist das Wichtigste, wichtiger, als ein erfolgreicher Künstler zu werden. Erfolg oder kein Erfolg, ist nur eine Frage der Zeit. Zehn Jahre hast du als Künstler Zeit, um erfolgreich zu sein. Nach zehn Jahren wirst du ein Plateau erreichen oder abstürzen. Warum sollte man sich auf diese zehn Jahre versteifen? Jeder bekommt seine zehn Jahre. Aber der Punkt ist, dass es gut genug ist, ein Künstler zu sein und weiterhin das zu tun, was man tut, und dass man Spaß daran hat und irgendwie überleben kann.
Beim Unterrichten lernt man selbst sehr viel, woraus man auch schöpfen kann.
Wenn du unterrichtest, trittst du in die Vorstellungswelten anderer Menschen ein. Das ist ein sehr intensiver Prozess, der viel Energie erfordert. Heute zum Beispiel waren es die Welten von drei Studentinnen: diejenige, die an der Serie über die Laternen arbeitet, eine andere, die ein Hörspiel über eine Deodorant-Fabrik macht, und eine dritte, die mit einer Art Robert-Walser-Kurzgeschichte über das Leben in Berlin beschäftigt ist. Dabei habe ich so viel gelernt! Es geht dabei auch darum, Erfahrungen zu teilen. Man selbst öffnet nur bestimmte Wasserhähne und lässt sie eine Weile laufen. Und dann stellt man manchmal fest, dass das alles Gedanken sind, die man schon gedacht hat, ein Weg, den man schon gegangen ist. Wir schämen uns, unsere älteren Arbeiten anzuschauen, weil das eben schon bekannte Schritte sind. Aber sie haben ihr eigenes Leben, sie sind wie Figuren, die man produziert und in die Welt gesetzt hat, und man hat keine Kontrolle mehr darüber, wie sie altern.
Und wie sind Ihre Bücher gealtert? „Corridor“ zum Beispiel, das in den Gassen von Delhi spielt und sich um den Laden eines altmodischen Buchhändlers dreht als Treffpunkt für verschiedenste Charaktere des modernen städtischen Indien.
Ich kann es nicht ertragen, mein erstes Buch zu sehen, die Seiten aufzuschlagen. Von allen fünf Büchern, die ich geschrieben habe, hat mir aber genau dieses Buch einen Kultstatus verschafft. Die Menschen über 35 kennen mich daher. Alle, die mit mir über dieses Buch gesprochen haben, haben Bedeutungen darin gesehen, an die ich damals nie gedacht habe. Ich war 28 Jahre alt, sorgenfrei, bin von einem Job zum anderen gezogen, ohne ein wirkliches Interesse an irgendetwas Bestimmtem im Leben. Ich schrieb dieses Buch und hatte überhaupt keine komplexen Gedanken. Und jetzt wird dem so viel Bedeutung beigemessen, dass ich selbst überrascht bin. Zum Glück hatte ich alle diese Gedanken nicht, sonst wäre alles sehr konstruiert gewesen. Die Menschen haben auch all die anderen Bücher gelesen, aber niemand würde mir sagen, dass ein anderes aktueller ist, weil es politischer ist.
Zum Beispiel „All Quiet in Vikaspuri“ von 2015? Graphic Novel verschmolzen mit cli-fi – Climate Fiction, wie es ein indisch-amerikani-scher Wissenschaftler bezeichnet hat.
Es ist ein Werk politischer Fantasie, in dem es um Wasser geht, um die Wasserkriege in Delhi. Um Gier und eine dystopische Gesellschaft. Und es ist eine homerische Reise. Wie ein Odysseus reist der Held zum Zentrum der Erde, um einen mythischen Fluss zu finden. Das Buch kommt bei den jüngeren Leuten gut an. Das hat mehr Relevanz.
Sarnath Banerjee ist Gastprofessor an der Fakultät Bildenden Kunst. Sein letztes Buch „The Moral Contagion“ über die Covid-19-Pandemie erschien im Februar 2024.
Gespräch + Text: Marina Dafova