Tragbare Technologie und Klang

Mode und Noise? Auf den ersten Blick scheinen beide grundverschieden zu sein. Zwei scheinbar unvereinbare Konzepte, die sich aber doch auf überraschend vielfältige Weise überschneiden. Mode, die Kunst, Identität durch Kleidung auszudrücken, schafft visuelle Aussagen. Noise oder Geräusch, Klang, Lärm, Ton, Krach, Schall, typischerweise akustische Erfahrungen. Mode kann über ihre Funktion als visuelle und taktile Kunstform hinaus auch eine sinnliche Erfahrung sein, die durch das Zusammenspiel von Materialien, Farben und Designs Botschaften und Gefühle transportiert. Geräusch, Lärm und Klang, im Wesentlichen auditive Phänomene, umfassen ein kaleidoskopisches Spektrum von Lauten, die sowohl harmonisch, störend, als auch kommunikativ wahrgenommen werden können. Wenn diese beiden Sphären sich überschneiden, entsteht ein Gewebe von Sinneserfahrungen, die sich ge-genseitig verstärken und neu definieren können. Geräusche verleihen der Mode eine zusätzliche Dimension, die das haptische und visuelle Erleben vertieft.

Die sensorisch-auditive Erfahrung von Mode beginnt schon mit unserem alltäglichen, wenn auch unbewussten Umgang mit Kleidung und Textilien: der Moment, wenn Stoffe durch unsere Hände gleiten, das federartige Rascheln feiner Seide, das kräftige Quietschen von schwerem Leder oder das weiche Fließen von Baumwolle. Die Geräusche von Kleidungsstücken beim Tragen und beim An- und Ausziehen – das surrende Ziehen eines Reißverschlusses, das Klicken von Druckknöpfen, das Echo von aneinanderreibenden Hosenbeinen, wenn man einen ruhigen Flur entlanggeht – tragen alle zu einer umfassenden Sinneserfahrung bei. 

Bekleidung kann auch im wörtlichen Sinne Lärm erzeugen. Die in Kleidung und Accessoires verwendeten Materialien können Geräusche erzeugen, die Teil der Modeaussage werden. Diese Geräusche können absichtlich eingesetzt werden, um den visuellen und haptischen Elementen der Mode eine auditive Dimension hinzuzufügen. Designer*innen können Materialien wählen, die Geräusche machen, um die Aufmerksamkeit auf Bewegung zu lenken. „There are different ways in which material reacts to the body, one of which is through sounds“ (A. Börner in M. Trübenbach: Material Dramaturgy. Tracing Trails of Dust in the Archi-tectural Design Process, Oslo 2024, S. 258). 

Alexandra Börner, Modedesignerin und Visual Artist, tritt vor dem kreativen Entwicklungsprozess in einen intimen Dialog mit Materialien und Textilien, um von den Materialien selbst Hinweise zu erhalten, wie sie in ihren Entwürfen eingesetzt werden können oder wollen. Materialien treten durch körperliche und dialogische Interaktion mit der  Designerin als Mitgestalter*innen in der Forschungsphase des Prozesses in Erscheinung, ihre wortlose Sprache übersetzt sich durch die körperliche und sensorische Interaktion mit ihren charakteristischen Eigenschaften, die die Potenziale für ihren Einsatz entfalten. „The interaction with materials has many layers of storytelling, which need different ways to communicate the agency of material” (Trübenbach, S. 260). Die Darstellung zeigt, welche Tiefe die symbiotische Beziehung zwischen Material und Klang schon in der Entwurfsphase von Kleidung annehmen kann und wie Designer*innen durch das Hören auf die Sprache der Materialien in den Entwurf geführt werden können.

Das klassische (und etwas beharrliche) Präsentationsformat von Mode – die Modenschau – ist ein nachvollziehbares und nahbares Beispiel für die Schnittmenge von Mode und Noise aus einer anderen Perspektive. Solche Veranstaltungen sind akribisch choreografierte Produktionen, bei denen jedes Element, von der Beleuchtung bis zur Musik, sorgfältig ausgewählt wird, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Die rhythmischen Schritte, das Rascheln und Wetzen von Stoffen und das kollektive Gemurmel des Publikums tragen zu einem umfassenden sinnlichen Erlebnis bei. Die Musik spielt hierbei eine zentrale Rolle, indem sie oft den emotionalen Ton und das Tempo der Show bestimmt. Ein pulsierender, energiegeladener Soundtrack kann die Spannung erhöhen, während eine weichere, ätherische Komposition eine erhabene, gedämpftere Atmosphäre erzeugen kann. Designer*innen nutzen gezielt Sound, um ihre Kollektionen zu ergänzen und konzeptuelle Aussagen dramaturgisch zu betonen. Dramatische, eindringliche Musik kann die Theatralik von Entwürfen verstärken. Im Gegensatz dazu kann klassische Musik ein Gefühl von Zeitlosigkeit unterstreichen. Gezielt gesetzte Kontraste – zum Beispiel dröhnende elektronische Musik aus New-Wave, Post-Punk, Synthpop zur Untermalung graziler Entwürfe einer luxuriösen Haute-Couture-Schau eines großen Modehauses aus Paris – können bewusst provokant oder einfach als konzeptionelle Gegengewichte eingesetzt werden, um Vision, Interaktion, Reibung und Resonanz zu erhöhen. Dieser strategische Einsatz von Sound verstärkt nicht nur die visuelle Wirkung, sondern kann auch einen Versuch darstellen, die Begehrlichkeit der Kleidung zu erhöhen. Musik wird auch eingesetzt, um das Publikum auf anderer Ebene mit der Beklei-dung zu verbinden, den Zielgruppenkreis zu erweitern oder sich aufgrund von Überschneidungen im Musikgeschmack und Fandom mit ihr und der sie umgebenden Kultur zu identifizieren.

Umgekehrt spielen Mode, Kleidung und Textilien eine zentrale Rolle in der Konzertwelt und können auch hier das Gesamterlebnis ergänzen oder vertiefen. In der klassischen Musik sind viele Aufführungen tief in Traditionen verwurzelt, die sich auch in der Kleidung widerspiegeln. Die klassischen schwarzen Anzüge und Abendkleider der Orchestermusiker*innen symbolisieren eine respektvolle, formelle Präsentation der Musik. Besonders bei solistischen Auftritten in klassischen Musikaufführungen kann die Wahl der Bekleidung die Wirkung der Musik intensivieren. Die auf der Bühne getragene Kleidung kann die Stimmung und den Ton des Stücks widerspiegeln, aber auch zur Erweiterung des künstlerischen Ausdrucks beitragen. Bekleidung und Textilien können die Bewegungen eine*r Musiker*in auf der Bühne betonen und mit der Musik interagieren. Die Kleidung eine*r Künstler*in kann auch das Gefühl auf der Bühne beeinflussen und die Wahrnehmung der Persönlichkeit durch das Publikum prägen. Eine sorgfältig ausgewählte Garderobe kann das Selbstbewusstsein eine*r Sänger*in stärken und die Bühnenpräsenz erhöhen. Die Wahl der Kleidung wird oft in Abstimmung mit dem Bühnenbild und der Beleuchtung getroffen. Stoffe, die Licht reflektieren oder absorbieren, können dramatische Effekte erzeugen. Diese Interaktion trägt zu einem kohärenten ästhetischen Erlebnis bei, das die Musik unterstützen und verstärken kann.

Quelle: Stephanie Penkov

Eine praxisorientierte Hinterfragung der etablierten, aber ungeschriebenen vestimentären Verhaltenskodizes auf Konzertbühnen kann durch die kreative Gestaltung von Mode selbst erfolgen, wie es derzeit im interdisziplinären Hauptprojekt von Wowo Kraus, Professor für Ent-wurf in Mode, und Deborah York, Professorin für Gesang, geschieht. Hier setzen sich angehende Designer*innen und angehende klassische Solist*innen gemeinsam mit Fragen der Bühnengarderobe auseinander. Ziel ist es, für eine neue Generation von klassisch ausgebildeten Sänger*innen Bühnenbekleidung zu entwickeln, die die Persönlichkeiten der Künstler*innen und ihre Stimmen in den Mittelpunkt stellt, weitab von klassischen dunklen Anzügen und Abendkleidern. Eine traditionelle Symbiose von Mode und Klang, neu gedacht. 

Auf einer anderen Ebene, angetrieben vom technologischen Fortschritt, entwickelt sich eine neue Welt des auditiv-sensorischen Erlebnisses von Mode und Bekleidung, durch den auch die Modebranche eine digitale Revolution erlebt und durch den neue Wege für die Interaktion von Klang und Mode eröffnet werden. Tragbare Technologie kann Klang auf innovative Weise einbeziehen: von Kleidungsstücken, die Musik abspielen, über Accessoires, die auf Umgebungsgeräusche reagieren bis hin zu vibrotextilen Materialien. Diese können Schall durch Vibration auf die Haut übertragen und so beispielsweise Gehörlosen ermöglichen, klassische Musik am ganzen Körper zu spüren. Designer*innen experimentieren mit Stoffen, die ihre Farbe oder ihr Muster als Reaktion auf Schallwellen verändern und so eine dynamische Interaktion zwischen den Träger*innen und ihrer Umgebung schaffen. 

Eine interdisziplinäre Verschmelzung von interaktiven Textilien, Interaktionsdesign und künstlerischer Forschung findet zum Beispiel im Projekt „Interwoven Sound Spaces“ statt, in dem ein Team von Forscher*innen mit zwei professionellen Ensembles für zeitgenössische Musik aus Berlin und Piteå, Schweden, sowie mit vier Komponist*innen zusammenarbeiteten, um ein telematisches Konzert zu schaffen, das gleichzeitig in zwei Konzertsälen und online stattfand. Im Mittelpunkt stand die Entwicklung interaktiver Textilien, die in der Lage sind, die Bewegungen der Musiker*innen beim Spielen akustischer Instrumente zu erfassen und Daten zu erzeugen, die die Komponist*innen in ihren Werken verwendeten. Musiker*innen, Instrumente, Textilien, Klänge, Säle und Daten bildeten ein Netzwerk von Einheiten und Akteuren, das zeigte, wie eine vernetzte Musikpraxis besondere Musiziertech niken ermöglicht (F. Visi et al.: Networking Concert Halls, Musicians, and Interactive Textiles: Interwoven Sound Spaces. Digital Creativity, 35 (1), 2024, S. 52-73).  

In der Realität kann der kreative Herstellungsprozess von Kleidung auch eine unverzichtbare Symphonie von Geräuschen darstellen, wobei hier das Bewusstsein für Kontext betont werden muss. Der gesamte analoge, dreidimensionale Entstehungsprozess von Kleidung und  letztlich von Mode wird im intimen Atelierkontext durch den ständigen Umgang mit (und Einklang von) Textilien, Materialien und Werk-zeugen begleitet. Das Zuschneiden von Stoffen erzeugt ein unverwechselbares Knirschen, das Bügeln und Pressen von Textilien ein erhitztes  Zischen und Dampfen. Das Schneiden und anschließende Hantieren mit Schnittpapier erzeugen ein präzises Rascheln und Reiben, das den Beginn der Kreation markiert. Das metallische Klirren von Linealen und Scherenklingen, das Zerreißen des Nesselstoffs vor dem Drapieren, das Einstecken von millimeterdünnen Stecknadeln in den Stoff. Der sum-mende Motor der Nähmaschine, das ruckartige Klacken des Fadenabschneiders. Jede Phase der Kleidungsherstellung, vom Zuschnitt über das Nähen bis zum abschließenden Bügeln, wird von charakteristischen Geräuschen begleitet, die den kreativen Prozess hörbar machen. In der virtuellen Realität setzen sich virtuelle Mode, digitale Kleidungsstücke, virtuelle Laufstegshows und Augmented-Reality-Erlebnisse immer mehr durch. Dieser neue Bereich verändert nicht nur die Art und Weise, wie Mode konsumiert und wie mit ihr interagiert wird, sondern bietet auch neue Möglichkeiten, sie zu kreieren. 

Im Vergleich zum physischen Herstellungsprozess von Bekleidung kommen die synthetisch erzeugten Klänge der neuen Welt von Mode und digitaler Technologie an ihre Grenzen, zumindest im dreidimensionalen Gestaltungs- und Entwicklungsprozess mittels 3D-Simulationssoftware. Während virtuelle Mode den Anschein von Realität erwecken kann, bleibt der authentische sensorische Genuss beim Machen von Mode oft noch unerreichbar. Die geräuschvollen Instrumente der Atelierumgebung, die den Herstellungsprozess von Mode auditiv-sensorisch begleiten, werden in 3D-CAD-Simulationssoftware durch Mausklicks und Tastenschläge ersetzt. Die akustische Erfahrung, die durch reale Textilien entsteht, wird in der virtuellen Welt lediglich imitiert. Diese Nachahmungen können die komplexen, nuancierten Klänge, die echte Auseinandersetzungen mit allen Elementen erzeugen, die mit der Entwick-lung und dem Erlebnis von Bekleidung einhergehen, nicht vollständig wiedergeben. Dadurch geht ein wesentlicher Teil der haptischen und akustischen Sinneswahrnehmung verloren, die Mode in der physischen Welt so facettenreich erfahrbar macht. Denn trotz vermeintlicher Vorteile ist die Integration von Geräuschen in die virtuelle Welt mit Herausforderungen verbunden. Die Schaffung realistischer und immersiver Klanglandschaften erfordert fortschrittliche Audiotechnik und erhebliche Rechenressourcen. Es ist eine komplexe Aufgabe, sicherzustellen, dass der Klang mit den visuellen Elementen synchronisiert wird und mit dem Benutzer interagiert. Außerdem gilt es, die digitale Kluft zu überwinden. Der Zugang zu virtuellen Modeerlebnissen hängt von der Verfügbarkeit hochwertiger Geräte und Internetverbindungen ab. 

In puncto Kontext: Die Kehrseite der beschriebenen, klangvollen Ma-nufakturprozesse von Bekleidung und Mode im Atelier wird erst auf in-dustrieller Skala im Massenmarkt sichtbar – oder hörbar –, denn Lärmbelästigung ist ein signifikantes, aber oft übersehenes Nebenprodukt der industriellen Produktion von Mode. Während Mode für ihre Kreativität und kulturelle Bedeutung gefeiert wird, bleibt die industrielle Produktion oft mit versteckten ökologischen und sozialen Kosten verbunden. Große Maschinen in Textilfabriken erzeugen hohe Dezibel-werte. Das ständige Brummen von Nähmaschinen und das Rattern von Industrieanlagen schaffen eine allgegenwärtige Lärmumgebung. Trotz vorhandener Vorschriften in einigen Ländern ist deren Durchsetzung oft lückenhaft. In vielen Entwicklungsländern fehlt es an Ressourcen oder gesetzlicher Unterstützung, um gegen Lärmbelästigung vorzugehen. Die wirtschaftlichen Interessen der Modeindustrie überschatten häufig die Gesundheits- und Umweltprobleme durch Lärm.

Die Beziehungen von Mode und Geräusch sind vielfältiger Natur, und wie so oft kommt es auf die Kontextualisierung und Dosierung an. In unserem Alltag, im physischen Konsum von Bekleidung, im langsamen, kunstvollen Prozess der handwerklichen Herstellung von Mode, z. B. bei Drapiertechniken oder in der Umgebung eines kleineren Ateliers, sind Geräusche ein wesentlicher Bestandteil der multisensorischen Er-fahrung. Diese Klänge – das Schnipsen einer Schere, das Summen einer Nähmaschine, das Rascheln von Stoffen – werden zu einem wichtigen Teil der kreativen Reise und verstärken den taktilen und visuellen Genuss der Modeherstellung.

 

Stephanie Penkov ist Gastprofessorin am Institut für Experimentelles Bekleidungs- und Textildesign.
Dieser Text ist exklusiv für das journal entstanden.