Remote control
„Die European Border Watch Organisation (EUBW) wurde gegründet,
um die Eigeninitiative der Bürger zu fördern, denen die europäische
Sicherheit am Herzen liegt. Der EUBW geht es aber nicht nur um die
Verhinderung illegaler Immigration, sondern auch um die Verhinderung
der menschlichen Tragödien, die damit einhergehen. Wussten
Sie, dass seit dem Jahr 2000 mehr als 28.000 Todesfälle unter irregulären
Einwanderern dokumentiert wurden, die versuchten, die Grenzen
zum europäischen Kontinent zu überqueren?
Helfen Sie, diese Menschen vor einem solchen Schicksal zu bewahren!
Helfen Sie, die EU-Außengrenzen für alle sicherer zu machen!
Verantwortungsbewusste EU-Bürger bekommen bei uns die Möglichkeit,
mit Hilfe von Webcams selbst aktiv die Grenzüberwachung zu
übernehmen. Die EUBW organisiert die Vermittlung, koordiniert die
Überwachung und kontrolliert den Internet-Zugang. Als Exekutive
dient die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an
den Außengrenzen (FRONTEX).
Be a web patrol – save your border!“
Kontrolle verspricht Sicherheit. Als 2007 dieses Angebot unseres Projekts
mit der Website www.europeanborderwatch.org online ging,
hatte das Thema Migration noch nicht den Stellenwert, den es heute
hat, und in Deutschland war der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien
noch nicht abzusehen. „turmlaute.2“, das unter dem Deckmantel
einer European Border Watch Organisation in einem Berliner
DDR-Grenzwachturm lief, war ein mehrschichtiges Experiment mit
den Besucher*innen: Sie waren aufgefordert, selbst Push-backs auszulösen,
weil – so wurde suggeriert – staatliche Institutionen es nicht
flächendeckend hinbekämen. Wie ist es also, plötzlich selbst verantwortlich
zu sein für die Zurückschiebung eines Menschen, ohne jede
Kenntnis der Umstände – einfach per Mausklick von Zuhause aus, per
remote control?
Obwohl diese Inszenierung gespickt war mit künstlerischen Überspitzungen
in Bild, Ton und Text, hielten die meisten Besucher*innen das
Projekt für real und dachten, sie stünden tatsächlich vor der Wahl,
über menschliche Schicksale zu entscheiden. Das erzeugte eine Spannung,
die sich nie ergeben hätte, wenn das Projekt von Anfang an
als ein Kunstprojekt deklariert worden wäre. Diese Spannung entlud
sich in vielen Reaktionen: von entrüsteten bis unterstützenden Emails
über verdeckte Recherchen im Turm von Presseleuten oder von einer
Gegendemonstration, die Studierende organisierten, bis zu ausgiebigen
Diskussionen des Aufsichtspersonals mit dem Publikum.
„Kunst ist die Kunst so zu tun, als ob. Das wirkt am nachhaltigsten“,
schrieb damals eine Rezensentin der Berliner Zeitung – und es ist
diese Wirkungskraft im Kopf, die das Spiel mit einem Fake so attraktiv
macht. Für einen bestimmten Zeitraum sind die Rezipienten der gefakten
Wirklichkeit ausgesetzt, was ein hohes provokatives Potenzial
hat. Im Gegensatz zur Täuschung, Fälschung und Betrug wird beim
künstlerischen Fake „das Moment der Enthüllung von vornherein mitentworfen“
(Martin Doll, Fälschung und Fake, 2012). D. h., der oder
die Rezipientin kann und soll nach einer gewissen Zeit dahinterkommen,
was gespielt wird. Erst dann setzt die volle Erkenntnis ein. Diesen
Punkt haben wir im Wachturm unterschiedlich lang hinausgezogen,
je nach Verhalten der Besucher*innen, ob sie sich entrüstet,
unsicher oder interessiert zeigten. Während der Führung, gesteuert
durch interaktive Überwachungstechnik, wurde ihnen ein Registrierungsformular
in die Hand gegeben und sie wurden dem extremen
grünen Licht und dem massiven Sound-Drone ausgesetzt, der den
ganzen Turm zum Vibrieren brachte.
Die extreme Erfahrung in dieser installativen Inszenierung entließ die
Besucher*innen anders als sie hineingekommen waren. Völlig kontrollierbar
ist eine solche Situation nicht. Auch die Veranstalter, das
Festival MärzMusik und die Kunstfabrik am Flutgraben, waren sich zunächst
unsicher, ob sie das Projekt durchführen sollen, u. a. wegen der
Gefahr, von rechtsextremen Gruppen vereinnahmt zu werden. Sich
aber einem Risiko auszusetzen, sich in Grenzbereichen zu bewegen
und die Balance zu halten – das ist explizit eine Möglichkeit der Kunst.
Und auch wenn dabei ein Projekt scheitern oder politisch inkorrekt
werden kann: Diese Freiheit zu bewahren – nicht nur in Inhalt und
Form, sondern auch im Interpretationsspielraum –, ist essenziell für
die Künste und sollte gegen jede äußere Kontrolle verteidigt werden.
In künstlerischen Formen handelt es sich meist um einen kontrollierten
Kontrollverlust, einen kalkulierten, inszenierten – einen spielerischen.
In gesellschaftlichen Formen sehen wir dagegen, dass ein
zunehmendes Gefühl des Kontrollverlusts in Kombination mit den Krisen
der Zeit die Entwicklung hin zu autoritären Regimen verstärkt,
das die Ängste vor Kontrollverlust nutzt, um eine totalitäre Kontrolle
zu etablieren und damit eigene Machtpositionen auszubauen. Die inzwischen
allgegenwärtigen Fakes – ob in bloßen Behauptungen oder
in KI-generierten Inhalten – dienen hier nur noch der Manipulation,
ohne das Moment der Enthüllung oder der Aufklärung. Die subversive
Kraft des Fakes ist inzwischen von rechts gekapert worden und die
Produktion von manipulierten Medieninhalten uneinholbar.
Diese Flut rechter Propaganda untersucht die Arbeit „Dark Matter“
(2021), deren Ausgangspunkt rechtsradikale Musik ist. Sie zeichnet
deren Entwicklung der letzten 20 Jahre nach – bis zum antisemitischen
Attentat in Halle 2019, bei dem sich der Attentäter mit einem
spezifischen Rap in Stimmung brachte. Hate Speech spielt hier eine
elementare Rolle. Doch während in den frühen Jahren Hass geradezu
zelebriert und als ein „positives Gefühl der Stärke“ und Identifikationsmerkmal
gefeiert wurde, haben sich inzwischen viel subtilere
Formen entwickelt, ironische und als Witz getarnte Memes und
Orwell‘sche Sprachfindungen – um immer sagen zu können: Es war
ganz anders gemeint.
Um junges Publikum zu erreichen hat sich auch das musikalische Genre
verändert: vom plumpen Oi-Rechtsrock über deutschsprachigen Hip-
Hop bis zu aufwendig gemachten englischsprachigen Rap approbations.
Der Attentäter von Halle spielte in seinem Live-Stream einen
Song des Schwarzen Rappers Future, der von einem „Mr Bond“ mit
einen arisch-rassistischen Text in sein Gegenteil verkehrt wurde. Dazu
passt das am Videospiel orientierte Auftreten des Attentäters und das
Live-Streaming an seine Community, was von der Kulturjournalistin
Veronika Kracher als „Gamification of Terror“ bezeichnet wurde.
Der Umgang mit derart heiklem Material bedarf einer besonders starken
Rahmung, womit ein ganz anderer Kontrollaspekt auftaucht: der
des Schutzraums. Hier ist nicht der Safe Space gemeint, sondern eher
der therapeutische Raum, in dem Konflikte – bis hin zu Schocks – sich
auf eine geschützte Weise offenbaren und durchlebt werden können.
Die Installation war jeweils nur einem/r einzelnen Besucher*in
zugänglich und wurde mit dem Eintreten in den Raum gestartet, damit
der gesamte dramaturgische Prozess durchlaufen werden konnte.
Vorbereitet wurden die Besucher*innen durch einen Warnhinweis und
eine direkte, mündliche Ansprache, jederzeit die Installation verlassen
und sich im Anschluss über die Erfahrung austauschen zu können.
Dieser kontrollierten, äußeren Rahmung steht eine innere Dramaturgie
gegenüber, die auf Kontrollverlust angelegt ist: der/die Besucher*
in wird in dem von einem schwarzen Vorhang völlig abgeschlossenen
Raum mit einer dreiseitigen Videoprojektion wie auch einer
dreiseitigen Audiowiedergabe konfrontiert, die über einen sensorgesteuerten
Funkkopfhörer mit Headtracker beeinflusst wird, der die
Blickrichtung erfasst. Die Zuhörer/-seher verstehen nicht gleich, wie
das funktioniert und müssen sich fortlaufend entscheiden, welcher
Seite sie sich zuwenden und worauf sie sich konzentrieren wollen. Die
Installation spielt mit dieser medialen Überforderung, durch die die
Rezipienten selbst hindurchfinden müssen. Bis sie entdecken, dass es
letztlich ihre Entscheidung ist, wem sie zuhören.
Solche interaktiven Konstellationen sind per se „nur“ Rahmen, in denen
sich das Werk erst im Moment der Interaktion realisiert, was zu individuell
unterschiedlichen Erfahrungen führen – und eben nicht völlig
kontrolliert werden kann. Im musikalischen Kontext betrachtet, ist
hier nicht kompositorisch (und interpretatorisch im Konzert) festgelegt,
was wie klingt, sondern der Verlauf bleibt prozesshaft ein klanglich
offener Raum, der sich dieser traditionellen Kontrolle entzieht.
Die künstlerische Gestaltung eines solchen Rahmens, wie sie sich im Bereich
der Komposition mit John Cage und der Konzeptkunst der 1960er
Jahre entwickelt hat, besteht in der Herausforderung, Kontrolle über
das Werk abzugeben, aber doch spezifisch zu sein. Veränderbarkeit
zulassen und trotzdem nicht in Beliebigkeit verfallen. Diese Offenheit
– eine kontrollierte Freiheit, könnte man auch sagen – erfordert und
erzeugt auf der Seite des Rezipienten eine entsprechende Haltung: Offenheit
in der Wahrnehmung, Neugierde und Entdeckungslust.
Georg Klein, Kompositions-, Klang- und Medienkünstler,
ist Professor und Direktor des Masterstudiengangs Sound
Studies und Sonic Arts.
www.georgklein.de