
Berlin - Stadt der Freiräume
Matthias Noell
Die Allegorie vom guten und vom schlechten Regieren des berühmten Freskenzyklus‘ von Ambrogio Lorenzetti im Ratssaal der seinerzeit mächtigen Republik Siena (1339) erinnert uns daran, wie eng Kunst mit gesellschaftlichen Idealen verwoben ist. In der Allegorie vom schlechten Regieren sitzt Tyrannis auf dem Thron, flankiert von Grausamkeit, Verrat, Betrug, Zorn und Krieg. Die Darstellung des guten Regierens hingegen zeigt das Gemeinwohl als Herrscherin, umgeben von Frieden, Klugheit, Großmut, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit. Lorenzetti vermittelt hier nicht nur Prinzipien einer idealen Herrschaft, sondern auch die kreative Vision eines Künstlers, der seiner Zeit eine Botschaft des Vertrauens hinterließ – Vertrauen in die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft.
Vertrauen ist der unsichtbare Faden, der soziale Interaktionen zusammenhält, besonders in Zeiten von Ungewissheit und unheilvollen Abhängigkeiten. Es ist zugleich ein Schlüssel zur Kreativität und künstlerischen Arbeit. Denn Kreativität ist im Kern ein Akt des Vertrauens: Der kreative Prozess bedeutet, sich auf das Unbekannte einzulassen, Ideen Raum zu geben und sie wachsen zu lassen. Er erfordert Mut – den Mut zu experimentieren, zu scheitern und neu anzufangen. Vertrauen in die eigene Vorstellungskraft, in die Stärke der Verletzlichkeit sowie in den Prozess selbst. Vertrauen in die transformative Kraft der Kunst.
Damit Vertrauen und Kreativität sich entfalten können, braucht es einen Raum – einen physischen wie geistigen –, der sowohl Autonomie als auch Zusammengehörigkeit ermöglicht. Das bedeutet auch, einen ausdehnbaren Raum des Dialogs zwischen den Künsten, Wissenschaft und Gesellschaft zu bewahren und offenzuhalten. Wie Ariane Jeßulat betont, ist er essenziell für die Freiheit des Denkens. Matthias Noell ergänzt diesen Gedanken mit einem Aufruf zur Hoffnung – einer Hoffnung, die „zugleich Widerstand“ bedeutet: gegen Zynismus und Resignation.
Die künstlerischen Arbeiten in dieser Ausgabe entdecken Themen wie die Dualität von Stacheldraht – als Grenze und Verbindung gleichermaßen; absurden Humor in urbanen Situationen, der eine passive Haltung in eine aktive umwandeln kann. Betonbunker als „Trümmer der Zukunft“ übersetzen sie in Fragmente der Gegenwart; beobachten die
Entkörperlichung und Entgeistigung immaterieller Arbeit und die Welt als Einheit von Partikeln und Energie.
Sie beschäftigen sich mit Anfang und Ende, mit dem Jenseits. Sie stellen Fragen:
Kann Kannibalismus Einsamkeit durch das Einverleiben des Anderen auflösen? Und gibt es nach der Apokalypse einen zyklischen Neubeginn?
Und schließlich ist da das Vertrauen, das Vertrauen in die Metamorphose – im geschützten Raum zu einem entschlossenen Akteur zu werden.
Matthias Noell
Ariane Jessulat
Artificial Avatars
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