Ein guter Ort
„Die UdK ist ein guter Ort“ – die Philosophin Arlette-Louise Ndakoze
und der Anthropologe George E. Lewis äußerten dies am Ende der
Festveranstaltung am 2. Mai 2022 zum 20-jährigen Jubiläum des Namenswechsels
von Hochschule der Künste zu Universität der Künste.
Beide hatten inspirierende Gastbeiträge dazu im Konzertsaal Hardenbergstraße
beigesteuert. Nach knapp zwei Jahren in der Hochschulleitung
konnte ich diesen Satz nur gefiltert hören: Auch wenn die
Situation im Sommersemester 2022 im Vergleich zu jetzt hoffnungsvoll
war, denn die Corona-Pandemie war samt den Maßnahmen zu
ihrer Eindämmung das erste Mal wirklich im Rückgang, Studierende,
Lehrende und Verwaltung begannen vorsichtig, aber mit spürbarem
Aufatmen, die Universität und ihre Gebäude wieder zurückzuerobern,
und wir sahen uns einer weniger sorgenvollen Haushaltssituation gegenüber.
Allerdings gab es auch im Mai 2022 genug Prozesse, die zu
langsam gingen, und natürlich waren die Mitglieder der Universität,
vor allem die Studierenden, ausgelaugt von über zwei Jahren durch
die Pandemie eingeschränkter Studien- und Lebensrealität – viel mehr
als sie sehen ließen.
Vor allem aus dieser Perspektive klang der Satz „Die UdK ist ein guter
Ort“ unwirklich, als Ort entdeckten wir sie ja gerade erst wieder.
Andererseits hallte der Satz bei mir nach, denn das Bild ist interessant:
Es ist etwas ganz anderes als zu sagen „Die UdK ist eine hervorragende
Universität“ oder auch „Die UdK ist ein guter Ort für die
Künste und Wissenschaften“ oder „Die UdK ist ein guter Studien- und
Forschungsort“. Alle diese weniger verwunschenen, aber in ihrer institutionellen
Bestimmung auch anmaßenderen Sätze kommen weder
so nah an uns heran wie „Die UdK ist ein guter Ort“ noch lassen sie
Raum für die Komplexität dieses Ortes, der betreten und verlassen
wird, geteilt, bespielt, besetzt, losgelassen, gefüllt, beschädigt, repariert,
erinnert, projiziert – aber eigentlich nicht erfasst.
Der vom Künstler Wolfgang Ludwig aus dem damaligen Fachbereich
Visuelle Kommunikation im Jahr 1977 verfasste Tätigkeitsbericht der
neu gegründeten Kommission für künstlerische und wissenschaftliche
Vorhaben, immer noch unsere heutige KKWV, beginnt mit der Forderung,
die Aktualität der Kunst zur Diskussion zu stellen und darum
die Hochschule nach außen zu öffnen und die Wechselbeziehungen
zwischen Gesellschaft und Hochschule zu erkennen. Der Bericht
endet mit dem Satz: „Durch eine solche Auseinandersetzung würde
die Hochschule auch wieder stärker als bisher in der Öffentlichkeit in
Erscheinung treten und sich bewusst einer Kritik der Öffentlichkeit
stellen.“
Diese letzte Wendung ist tatsächlich überraschend, da sie plötzlich
die Blick- und Impulsrichtung umkehrt. Das kommt unerwartet, und
dennoch lief der gesamte ebenso fordernd wie sachlich gehaltene Tätigkeitsbericht
auf genau diese Drehung hinaus: Wir lassen uns ansehen,
beobachten, kritisieren, wir bringen Gesellschaft und Hochschule
in Stellung im Feld der Kritik. Der dabei entstehende Spannungsraum
wird tunlichst frei gelassen, nicht definiert.
Der Rückblick auf die ersten beiden Jahre direkt nach dem Zusammenschluss
zur Hochschule der Künste durch die Vereinigung der Hochschule
für Bildende Künste und der Hochschule für Musik und Darstellende
Kunst im West-Berlin des Jahres 1975 markiert nichts anderes
als die Sensibilität und Sichtbarkeit der Institution. Und schon in diesem
kargen Bericht, auf dessen Klarheit, Selbstbewusstsein und Neuheit
im Blick auf Themen wie Interdisziplinarität, die gesellschaftliche
Position der Künste und eben auch das, was die Gesellschaft dazu beitragen
muss, ich immer wieder mit Bewunderung und Neid schaue,
wird klar, dass dieser gute Ort das kritische Potenzial eines Fensters
hat: Rahmen, Öffnung, Ausschnitt, Einschluss, Ausschluss. Wie es bei
Beckett heisst: „… and live the space of a door that opens and shuts.“
Die UdK Berlin ist keine Burg und keine Stadt, und sie kann wie beim
Camouflage-Effekt bei Insekten nach der Theorie von Roger Caillois
komplett unsichtbar werden, je nachdem welche Menschen, Begegnungen,
Projekte, welche Kunst, welche Forschung von innen und
außen gerade die Konzentration zu einer neuen Form bewirkt. Und
bezeichnenderweise verhält sich die Sichtbarkeit dieser temporären
Formen oder Narrative der Institution für uns so wie der blinde Fleck,
also der Raum, den der Austrittspunkt des Sehnervs im Gesichtsfeld
einnimmt. Wir können uns selbst nicht beim Sehen zusehen, unsere
Versuche, so nah wie möglich an diesen blinden Fleck zu kommen,
quasi im Vorbeisehen etwas zu fassen, sind als Gesten, Verzerrungen
und kreative Transformationen wesentlicher Teil des guten Ortes. Unsere
institutionelle Leistung besteht darin, diese Freiheit, Selbstvergessenheit
und interaktive Sichtbarkeit wie Unsichtbarkeit als für das
Entstehen von Kunst wesentliche Konditionen zu erhalten. Das ist
sehr harte Arbeit, allein schon zu merken, ob das Fenster nicht nur
offen aussieht.
Als ich mich 2020 als Vizepräsidentin zur Wahl stellte, wurden mir für
eine Präsentation von 20 Minuten sieben Fragen gestellt, alle ziemlich
gut – zumindest habe ich den Eindruck, die fünf Jahre, die darauf
folgten, kaum etwas anderes im Fokus gehabt zu haben. Die ersten
beiden Fragen betrafen meine „Position zur Bedeutung und dem
Verhältnis der wissenschaftlichen Forschung zur künstlerischen an der
UdK Berlin“. Die Fragen könnten direkt aus dem Tätigkeitsbericht von
1977 entnommen sein, auch wenn sie in der Institutionsgeschichte einen
ganz anderen Stand und Zusammenhang betrafen. Ich weiß, dass
ich damals im Sinne der institutionellen Entwicklung etwas zum Dritten
Zyklus geantwortet habe. So hatte die Frage Sinn aus der Perspektive
derer, die sie vermutlich im Jahr 2019 in dieser Form entworfen
haben. Wäre ich ganz ehrlich gewesen, in diesem Falle weniger sinnvoll,
hätte ich zurückgefragt, nämlich nach der Qualität des Wortes
„Position“.
Gerade im heutigen Gebrauch des Wortes „Positionierung“, ist eine
Position eher fest, ein Ort, den man nicht verlässt oder ändert. Im
frühen
19. Jahrhundert, nicht nur bei Hegel, ist Position eine Setzung
in der Bewegung, also ein kritischer Moment. Die Anekdote, dass Galileo
Galilei bei der Ermittlung der Fallgeschwindigkeit für die Messung
kleinster Zeitintervalle eigentlich ein Musikinstrument konstruierte,
ein schiefe Ebene mit Glöckchen – niedliche Varianten davon
gibt es heute als Holzspielzeug, als Murmel- oder Kugelbahn für Kinder
ab drei Jahren zu kaufen – ist sehr oft zu diesem Thema zitiert
worden. Es ist frappierend, dass in der Konkurrenz der damaligen
Möglichkeiten der Zeitmessung der künstlerische Zugriff der präziseste
war. Die schiefe Ebene war wegen der Skalierung der Messung
so raumgreifend, dass mehrere Personen – eine nahm den eigenen
Puls als Messgrundlage, eine ließ die Kugel rollen, eine kontrollierte
die Klänge beim Passieren der Glöckchen – beteiligt waren, exakt wie
in einem Trio.
Für Galileis Position, der in diesem Moment sicher musikalisch agierte,
ist doch relevant, dass er danach keine zweite schiefe Ebene aufbaute,
um mehrstimmig zu spielen, dass er vermutlich keine Operationen
an der Qualität und dem Abstand der Glöckchenklänge oder an der
Schräge der Bahn vornahm, die einer Logik künstlerischer Autonomie
folgten, sondern in seinem Handeln als Wissenschaftler an der Qualität
der Messung interessiert war, daran, die Senkrechte des freien
Falls zu simulieren. Als Position mit dialektischem Spielraum kann der
Ort seines Handelns zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher
Forschung rekonstruierend angenähert werden, im Sinne einer festen
Position ist es nicht möglich. Seine im modernen Sinne transdisziplinäre
Methodik unterschied sich gar nicht so sehr von heutiger
naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung. Die schiefe Ebene als
Simulation, als operativer Umgang mit der anamorphotischen
Verzerrung
von Dingen, die man nur im Vorbeisehen, in der Bewegung erfassen
kann, markiert im Modell dieses messenden Zusammenspiels
den Raum zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung –
und der ist keine Grenze, sondern autonom, unverfügbar und unendlich
ausdehnbar. Und auch diesen Raum muss die UdK Berlin als guter
Ort aufgespannt halten.
Ariane Jeßulat, Erste Vizepräsidentin der UdK Berlin von 2020 bis 2025,
ist Professorin für Musiktheorie am Institut für Musikwissenschaft,
Musiktheorie, Komposition und Musikübertragung. Dieser Text basiert
auf ihrer Rede zur feierlichen Verabschiedung des Präsidiums im März.