Von Anfang an und immer wieder
Lernen von Kunst
Von Kirsten Winderlich
Wenn Kunst zur Wirkung kommen soll, sollte sich die Kunst vor der Pädagogik in Acht nehmen, sich vor ihr hüten – soweit die einleitende These.
Häufig ist der Begriff Kunst im Hinblick auf Schule, Bildung und Erziehung mit einer spezifischen Erwartungshaltung verknüpft: Kunst soll Kinder und Jugendliche fördern, Kunst soll lebenslanges Lernen unterstützen, den inter- und transkulturellen Austausch fördern, zur Inklusion beitragen, Kunst soll entlasten und entspannen, ermöglichen einen Lebenssinn zu finden … Die Liste könnte fortgeführt werden. Was allen aufgezählten Erwartungen gemeinsam ist, ist ihr Zielcharakter, ihr Ausblick auf einen konkreten Nutzen.
Um einen Lernbegriff zu schärfen, der Kunst jenseits ihres Nutzens produktiv macht, sollen im Folgenden die Dimensionen von Kunst fokussiert werden, die sich durch Freiheit von Zweck und Nutzen auszeichnen und gerade darüber eine Nähe zu Bildung herstellen.
In einem ersten Schritt folgt diesbezüglich eine Klärung und Positionierung zwischen den Begriffen Pädagogik und Bildung, um dann im Anschluss die unterschätzte Nähe zwischen Kunst und Bildung aufzuzeigen.
Der Begriff Pädagogik bezeichnet eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung auseinandersetzt. Häufig ist dabei eine Dominanz des Begriffes Erziehung zu beobachten, einem Begriff, der als Einflussnahme auf Entwicklung und Verhalten von Heranwachsenden durch Erwachsene definiert werden kann. Die Einflussnahme ist dabei als intentionale Tätigkeit zu verstehen, die von Normen abgeleitet wird, auf Ziele ausgerichtet ist und sich spezifischer Methoden und Mittel bedient. Im Unterschied zu Bildung wird dieser Rahmen von extern gesetzt, d.h. nicht primär und ausschließlich durch das lernende Subjekt selbst.
Anders als Erziehung kann Bildung als Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung und Transformation des Selbst- und Weltbezugs beschrieben werden. Bildung ist damit nicht nur Aufnahme, Aneignung und Verarbeitung von Wissen oder Umsetzung von extern gesetzten Zielen, sondern vielmehr als Möglichkeit zu verstehen diesen Rahmen im Zuge neuer Wahrnehmungs- und Sichtweisen zu öffnen und zu erweitern und entsprechend als ein „Andersdenken oder Anderswerden zu begreifen“.[1] In diesem Sinne kann Bildung auch als experimentelle Form der Welterschließung[2] betrachtet werden und zeigt auf diese Weise eine besondere Nähe zu Kunst, bei der es immer auch um ein Befragen und Hinterfragen des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses geht. Bildung wie auch künstlerische Tätigkeit ist an Erfahrungen gebunden, die weniger gesicherte Ergebnisse nach sich ziehen, als vielmehr bedeuten, etwas durchzumachen.[3] Das an Erfahrungen gebundene Lernen, das sowohl im Rahmen von Bildungsprozessen als auch in künstlerischen Prozessen initiiert werden kann, versucht dabei weder der Welt verlässliche und vorhersehbare Züge abzugewinnen noch ist das an Erfahrungen gebundene Lernen als Besitz jederzeit verfügbar und abrufbar. Vielmehr kann im Kontext von Bildung wie Kunst ein Lernen stattfinden, das mit Rumpf versucht der Welt nahe zu kommen, sich die Welt gewissermaßen unter die Haut gehen zu lassen und damit eine Haltung erreicht wird, die dem Subjekt ermöglicht sich auf die sinnliche Dichte von Rätselhaftem, Widerständigem und Fremden, das die Welt auch ausmacht, einlassen zu können.[4]
Diese Haltung dem Lernen gegenüber liegt in einem Kunstverständnis begründet, das Kunst nicht nur als Vermögen oder als Können begreift. Vielmehr zeichnet sich Kunst auch durch eine Kraft aus, die im Spiel wirkt, eine Kraft, die erfinderisch und dabei ohne Zweck ist und dadurch ihrer Hervorbringung immer voraus ist.[5]
Was ist das für ein Lernen in, an, mit und durch die Kunst? Was für ein Lernen von Kunst? Und was bedeutet dieses Lernen für Studierende der künstlerischen Lehramtsstudiengänge? Für Studierende, zu deren Studienalltag gehört sich in einem ständigen Spagat zwischen Pädagogik und Kunst üben zu müssen, bei gleichzeitigem Wissen, dass dieser nie in Vollendung erfahren und gelebt werden kann?
In, an, mit und durch die Kunst kann ein Lernen angestoßen werden, auf dessen Verlauf weder Künstler*innen noch Pädagog*innen nur bedingt Einfluss haben, ein Lernen, dessen Potenzial jedoch gerade in dieser Eigenschaft liegt, und das auf einem „Curriculum des Unwägbaren“[6] fußt.
Um Kindern und Jugendlichen in der Schule umfassende Gelegenheiten für ein derartiges Lernen zu geben, ist es entsprechend unabdingbar, dass angehende Lehrkräfte nicht nur um dieses spezifische Lernen wissen, es zu schätzen wissen, sondern sich gleichzeitig im Studium dafür qualifizieren.
Die grundlegende Frage ist dabei aus meiner Sicht folgende:
Wie komme ich mit meiner Kunst, mit meiner künstlerischen Erfahrung, in Kontakt mit dem Anderen, den Kindern und Jugendlichen, den Menschen, mit denen ich im weitesten Sinne arbeite. Wie komme ich also in einen Austausch und auf welche Weise kann ich dem Anderen Raum geben, sich künstlerisch zu erproben und künstlerische Erfahrungen zu sammeln, ohne dass ich die Kunst aufgebe, mir die Kunst abhanden kommt und ich mich von der Rolle der Pädagog*in, die ich gleichzeitig inne habe, dominieren lasse?
Meines Erachtens ist für einen Umgang mit diesen Fragen eine wahrnehmend-forschende Haltung unverzichtbar.
Eine wahrnehmend-forschende Haltung bedeutet in vorliegendem Kontext, die Prozesse, die man angestoßen hat, wahrzunehmen und das Wahrgenommene dabei reflexiv zu durchdringen. Es handelt sich also um eine Haltung, die in der Schule, in der es primär um Aufgabenstellungen geht, deren Bearbeitung und Ergebnis auf vorab festgelegte Ziele hin überprüft werden, eher ungewohnt ist. Eine wahrnehmend-forschende Haltung kann hingegen den Lehrenden auch einen Zugriff auf das Noch- nicht-Antizipierte, das Noch-nicht-Gewusste oder das Unerwartete ermöglichen und dieses nicht nur auf kognitive sondern durchaus auch auf körperlich-sinnliche und szenisch-situative Weise. „Letztlich bricht eine forschende Haltung mit ‚der Illusion des unmittelbaren Verstehens‘ (Bourdieu/Wacquant 1996) – was sie in eine Nähe zur Kunst rückt.“[7]
In diesem Sinne schlage ich vor, vonKunst zu lernen und sich vom Ästhetischen Bildungspotenzial der Kunst anregen zu lassen, was auch bedeutet, auf die radikale Fremdheit der Kunst zu bestehen,[8] „[…] der Kunst ihre Ferne, ihre Widerstandskraft, ihre aus Erstaunlichem und Erschreckendem gemischte Zugkraft zu erhalten.“[9] Unser Blick sollte genau in dieser Weise auch auf das künstlerische Arbeiten von Kindern gerichtet werden. Auch hier gilt es, auf die postulierte Fremdheit zu bestehen und sich das eigene Staunen nicht durch vorschnelle Einordnung und Bewertung nehmen zu lassen. Die Initiierung wie auch die Begleitung künstlerischer Prozesse von Kindern und Jugendlichen erfordern demnach eine Fähigkeit, die in den kompetenzorientieren Rahmenplänen verloren gegangen ist, weil sie nicht messbar ist, einer Fähigkeit, für die Lehrer*innen der künstlerischen Fächer jedoch Expert*innen sind: die Fähigkeit zur Imagination bzw. zur Einbildungskraft. „Diese Einbildungskraft entführt uns nicht in eine andere Welt, sondern lässt die Welt als andere erscheinen.“[10] Voraussetzung für diese Fähigkeit ist jedoch, „sich von den Dingen durchdringen zu lassen […] sie zu Bildern werden lassen, wann sie es wollen“.[11]
Das ästhetische Bildungspotential von Kunst zur Wirkung zu bringen, heißt demnach die Fähigkeit zur Imagination – zur Einbildungskraft – von Kunst zu lernen.
Und wenn gerade die Wichtigkeit betont wurde, das Ästhetische Bildungspotenzial von Kunst wahrzunehmen und aufzugreifen, dann gilt dieses für die Schule wie auch für die Hochschule bzw. das Studium. Eine Qualifizierung für die künstlerischen Lehrämter setzt voraus, dass Schule wie auch Hochschule für die angehenden Lehrkräfte als ästhetischer Bildungsraum wahrgenommen und genutzt werden kann. Finden Studierende trotz wahrnehmend-forschender Haltung in der Schule wie Hochschule nichts vor, was ihre Imaginationsfähigkeit anregt, bleibt für die von Menke beschriebene Kraft der Kunst kein Raum.
Literatur
- Ahrens, Sönke (2011): Experiment und Exploration. Bildung als experimentelle Form der Welterschließung. Bielefeld
- Bilstein, Johannes/Dornberg, Bettina/Kneip, Winfried (2007) (Hg.): Das Curriculum des Unwägbaren. I. Ästhetische Bildung im Kontext von Schule und Kultur (Pädagogik: Perspektiven und Theorien, hg. von Johannes Bilstein, Bd. 8). Oberhausen
- Bilstein, Johannes/Kneip, Winfried (2009) (Hg.): Die Musen als Mägde. Von der Veränderung der Künste in der Schule (Pädagogik: Perspektiven und Theorien, hg. von Johannes Bilstein, Bd. 10). Oberhausen
- Bourdieu, Pierre/Waquant, Loic J. D. (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt a./M.
- Kokemohr, Rainer (2007): Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden. Annäherungen an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller, Hans-Christoph/ Marotzki, Winfried/Sanders, Olaf (Hrsg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld, 13–69
- Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld
- Rumpf, Horst (2010): Was hätte Einstein gedacht, wenn er nicht Geige gespielt hätte? Gegen die Verkürzungen des etablierten Lernbegriffs. Weinheim und München
- Waldenfels, Bernhard (1990): Der Stachel des Fremden. Frankfurt a./M.
- Waldenfels, Bernhard (2010): Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a./M.
- Winderlich, Kirsten (2019): Von den Rändern her. Zu Forschungsverständnis und -praxis der grund_schule der künste der Universität der Künste Berlin. In: Kunz, Ruth/Peters, Maria (Hgg.): Der professionalisierte Blick. Forschendes Studieren in der Kunstpädagogik. München, 672–689
Dem Beitrag geht ein Vortrag voraus, den Kirsten Winderlich anlässlich des Symposions „Künste lehren“ am 2. Mai 2019 an der Universität der Künste Berlin gehalten hat.
[1] Christoph Koller 2012, 9
[2] Vgl. Sönke Ahrens 2011
[3] Vgl. Bernhard Waldenfels 1997, 19
[4] Vgl. Horst Rumpf 2010, 11
[5] Vgl. Christoph Menke 2013, 13
[6] Johannes Bilstein u.a. 2007; 2009
[7] Kirsten Winderlich 2019, 674
[8] Vgl. Bernhard Waldenfels 2010, 132
[9] Ebd.
[10] Bernhard Waldenfels 1990, 209
[11] Ebd., 210