23 Berlin verschwindet
BERLIN VERSCHWINDET
Spaziergänge an Orte, die morgen nicht mehr da sein werden
„Tout ce qui nous entourne est patrimoine.“
Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal
„Le patrimoine, c’est la vie.“
Alain Croix
„Aber wo ist es, unser Leben? Wo ist unser Körper? Wo ist unser Raum?“
Georges Perec
Das Zeitalter der Industrialisierung ist gleichzeitig jenes der massiven Zerstörungen und des Verschwindens: „Alles verschwindet, alles geht zugrunde“, schrieb der französische Pamphletist Paul-Louis Courier angesichts der gravierenden Abrisse und Verluste von Kunst und Architektur in der Folge der Französischen Revolution – und seither ginge es bekanntlich munter weiter. In einer Zeit, in der die Bedeutung kanonischer Objekte schwindet, die Diversität an Bedeutungszuweisungen zunimmt, gleichzeitig aber mehr denn je zuvor abgerissen, verdrängt und vernichtet wird, muss man sich Gedanken über den Zustand von Stadt und Gesellschaft machen.
Wir wollen in diesem Semester ausgewählte Brennpunkte der städtischen Transformation analysieren. Neben den bekannten Dingen betrachten wir auch das Alltägliche, das Rauschen, das „Infra-Ordinäre“, das noch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Gewöhnlichen liegt. Nicht entlang der Ereignisgeschichte Berlins wollen wir uns bewegen, also nicht an großen Daten, anerkannter Monumente und berühmter Personen orientieren, sondern das Versteckte, Unerkannte, Verblassende suchen, notieren, beschreiben, zeichnen und fotografieren. Dabei soll es auch um uns selbst in unserer Stadt gehen, denn ist unser Leben nicht an die konkreten Orte und unsere Erinnerung an diese geknüpft?
Wir flanieren zu materiellen Überresten, zu Zwischenräumen der Architektur, zu Lücken, Brandwänden und natürlich Gebäuden, zu verblassenden typografischen Hinterlassenschaften, originalen Putzen, Werbung und Farben. Dass es bei derlei Stadterkundungen immer auch um Stadtentwicklungspolitik, um den Stellenwert der Architektur in unserer Gesellschaft gehen muss, muss dabei nicht eigens ausgeführt werden. Was wird sich in unserer Stadt verändern, welche Form von Erhaltung, welche „Architektur“ wollen wir an welchen Orten ermöglichen und praktizieren?
Auf unseren Spaziergängen durch Berlin gehen wir dem vergangenen Verschwinden hinterher, aber auch dem zukünftigen voraus. Mit Paul Cézanne können wir jeden Tag feststellen, dass unsere Stadt, dass alles sich verändert: „Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.“
Seminar in Form von Stadtspaziergängen, Donnerstags (vierzehntägig), 13:00-18:00 Einführung: 20.4., 17:00, A 336
BA Module 12/14 = 3ects / MA Module 3/5 = 5ects
Anmeldung per Mail (!!!) an m.noell [at] udk-berlin.de mit einer Kurzbegründung für die Wahl des Kurses
Literatur
Georges Perec: Approches de quoi? [1973]. In: L'Infra-ordinaire. Paris 1989, S. 9-13. Deutsche Übersetzung in ders.: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler? Bremen 1991 / Zürich-Berlin 2015.
Denkmaltopografien, Denkmaldatenbank Berlin, Dehio, Berlin und seine Bauten etc. für die jeweiligen Stadtteile konsultieren!
Matthias Noell: Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars. Berlin 2020.