Semesterarbeiten Grundkurs 2020
2020 -+-. Band 8
Gab es jemals ein Lexikon der falsch verwendeten architektonischen Fachbegriffe?
Vermutlich nicht, warum auch? Galt es seit dem 19. Jahrhundert doch in erster Linie als zentrale Aufgabe, eine gültige Architekturterminologie zu etablieren. Nach einigen Jahrzehnten war man sich darüber im Klaren, dass man nun besser keine weiteren Begriffe erfinden solle, auch wenn die bereits eingeführten manchmal nur "conventionell" seien, "ein wenig schielend" oder auch "völlig nichtssagend", wie es Franz Kugler ausdrückte. "Durch Erfindung von abermals neuen Benennungen, deren Angemessenheit nicht minder in Frage kommen möchte, zu neuer Begriffsverwirrung Anlass zu geben" – das schied für Kugler vollkommen aus.
Aber die Architektur schreitet voran wie die Gesellschaft auch, und es kommen neue Moden, neue Ideen, neue Notwendigkeiten, neue Materialien, und die Sprache muss darauf reagieren – und so lange die Sprechenden untereinander keine Begriffsverwirrung hervorrufen, ist dies auch vollkommen in Ordnung. Denn, so führte Claude Lévi-Strauss aus: "Das Wuchern der Begriffe entspricht, ganz wie in den Berufssprachen, einer intensiveren Aufmerksamkeit für die Eigenheiten des Wirklichen, einem wacheren Interesse für die Unterscheidungen, die man einführen kann."
Wir stimmen zu: Nichts spricht prinzipiell gegen gut er- oder gefundene Neologismen. Gleichzeitig insistieren wir auf das genannte "wachere Interesse für die Unterscheidungen". In loser Folge stellen wir hier daher Begriffe vor, die nicht mehr aus dem Vokabular der Architekturschaffenden und -interessierten wegzudenken zu sein scheinen – aber dennoch nicht so verwendet werden sollten. Bei unseren Richtigstellungen stützen wir uns auf einschlägige, unbedingt zitierfähige Nachschlagewerke der Sprache, Philosophie und Architektur.
Kaum ein anderer Begriff hat in den vergangenen Jahren einen so durchschlagenden Erfolg gehabt, wie das Reden von der "Materialität" der Architektur. Gemeint sind dabei meist die für einen Entwurf oder seine Ausführung ausgewählten und zusammengestellten Materialien. "Materialität" wird dann als ein Begriff eingesetzt, der im Zusammenhang mit gleichzeitig angeführten Themen wie "Konstruktionsart" oder "Farbwahl" steht. Alle zielen auf die Erläuterung einer bewussten Auswahl der einzelnen Bestandteile eines Entwurfs – zum Beispiel eine Kombination aus Sichtbeton, Kiefernholz und Glas für die Fassade und Innenräume eines Wohnhauses. Nur die "Materialität" aber hat es zu einer adelnden neuen Bedeutung gebracht – eine Folge der material studies?
Die Herkunft und Bedeutung des Begriffs sind dabei eigentlich klar und eindeutig. "Materialität" meint das Gegenteil von "Immaterialität" und zielt darauf ab, die Stofflichkeit oder Existenz von Körperlichkeit zu beschreiben. Die Materialität der Architektur wäre demzufolge die Tatsache, dass Letztere aus Materie besteht – eine eigentlich unnötige Aussage, denn sie wäre redundant und daher überflüssig. Für eine qualifizierte Aussage, aus welcher Materie die Architektur konkret besteht, ist dieser Begriff also nicht geeignet.
Noch schöner ist seine Verwendung im Plural, denn welches Gebäude gibt sich schon mit einem Baustoff zufrieden! Also "Materialitäten". Dumm nur, dass der Begriff in seiner Ursprungsverwendung keine Pluralbildung zulässt, denn was bedeutete dies, wo "Materialität" doch eine Eigenschaft umschreibt? Ein eindeutiges Zeichen, dass die Verwirrung bereits weit fortgeschritten ist und uns noch eine Weile erhalten bleiben wird.
Literatur
Der Begriff "Typologie" ist aus dem aktuellen Diskurs der Architektur kaum wegzudenken. Dabei ist er dort noch nicht einmal besonders lange zu Hause, jedenfalls nicht in seiner heutigen Verwendung. Immerhin aber zieht sich die Diskussion um den architektonischen Typus als eine der Konstanten durch die Architekturtheorie zumindest der letzten zweihundertfünfzig Jahre. Es war Antoine-Chrysostome Quatremère de Quincy, der 1825, im dritten Band seiner Encyclopédie méthodique, erstmals den Typus als "die Idee eines Elements, das seinerseits dem Modell als Regel dient", definierte und damit den Typus als Urform, aus der sich alle weiteren Entwicklungen und Variationen herleiteten und an den diese anknüpften, aus den Naturwissenschaften in die Architektur holte. Die systematische Suche nach den elementaren Bautypen ist seither eine jener raren architekturbezogenen Methoden, das Entwerfen mit wissenschaftlichen Grundlagen auszustatten. Als Lehrgebäude untermauert die Typologie – zusammen mit der Konstruktion – den Anspruch der Architektur, selbst auch eine Wissenschaft zu sein.
Zuletzt prägte seit den 1960er-Jahren bis weit in die 1980er-Jahre die typologische Komponente der Architektur eine ganze Generation von Architekten. Ausgehend von einem Aufsatz des italienischen Kunsthistorikers Giulio Carlo Argan von 1962, in dem dieser die Typologie in Analogie zur Methode der Ikonologie setzte, wurde Quatremère de Quincys Artikel "type" vor allem von Aldo Rossi, Giorgio Grassi oder Carlo Aymonino rezipiert und für die eigene Entwurfstätigkeit fruchtbar gemacht. Sie konnten mit dieser theoretischen Präzisierung die seit den 1940er-Jahren von Saverio Muratori in Venedig unternommenen Studien zur typologischen und morphologischen Fortschreibung der historischen Stadt untermauern und für eine zeitgenössische Architektur anwendbar machen. Das Problem der Form, so Rossi 1966 in L'architettura della città, könne nicht ohne die Reduzierung auf die ihr zugrundeliegenden Typen diskutiert werden.
Heute wird der Begriff der Typologie nicht selten im Sinne der Typenbildung verwendet, und damit der Fokus von der Wissenschaft weiter zum Entwurf verschoben. Das Entwerfen der Typen, insbesondere von Grundrisstypen, d.h. ihre Entwicklung, Herausbildung, Verschiebung und Übertragung, folgt nun nicht mehr einer typologischen Analyse, es wird dabei kurzerhand selbst zur Typologie. Dabei liegen die Spitzfindigkeiten eines Quatremère oder Rossi verständlicherweise längst hinter uns. Man bedient sich der Begriffe, ohne jedoch ihre eigentliche Bedeutung, Tiefe und die ihnen innewohnenden Möglichkeiten zu reflektieren. Die Idee eines Objekts, der Typ, wurde mittlerweile durch die vergleichende Lehre der Typen, die Typologie, ersetzt, wie es zum Beispiel im Baumeister hieß: "Das Denken und Entwickeln neuer Typologien in Architektur und Städtebau" sei ein zentrales Thema unserer Zeit – oder sollte hier wirklich das Lehrgerüst gemeint gewesen sein? Und selbst die Architekturlehrstühle, die die Methode der Typologie oder Gebäudelehre vertreten, sind sich der grundlegenden Unterschiede offensichtlich nicht bewusst: "[...] entsprechend der chronologischen Abfolge der Epochen" werden nun "die wichtigsten historischen Typologien von Architektur und Stadt vorgestellt". Die Lehre des Sammelns und Vergleichens, Ordnens und Klassifizierens von architektonischen Typen wird zum Einzelfall degradiert, und damit der Anspruch der Architektur, Wissenschaft zu sein, unwillentlich ad acta gelegt. Aus der Übersicht wird die Einzellösung, die, damit es besser klingt und der entstandene Bedeutungsverlust überspielt werden kann, im Regelfall im Plural verwendet wird (vgl. oben Material vs. Materialität / Materialitäten). Heute entwickelt man nicht einen banalen Typ weiter, sondern lässt mit den "Typologien" gleich ganze Wissenschaften entstehen.
Quatremère hätte vermutlich an diesem Punkt noch einmal den Satz von Montesquieu herausgeholt, den dieser von Ovid entlehnt hatte: Prolem sine matre creatam – eine historische Methode ohne Vergangenheit?
Literatur
Antoine Chrysostome Quatremère de Quincy: Encyclopédie méthodique: architecture, Paris 1825, Bd. 3, s.v. "type", S. 544.
Giulio Carlo Argan: Sul concetto di tipologia architettonica, in: Festschrift Hans Sedlmayr, Karl Oettinger (Hrsg.), München 1962. S.96-102.
Aldo Rossi: L'architettura della città [1966], Turin 1995, S. 35. Deutsche Übersetzung unter: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Düsseldorf 1973.
Nikolaus Pevsner: A History of Building Types, Princeton/N.J. 1976 (deutsche Übersetzung: Funktion und Form. Die Geschichte der Bauwerke des Westens, mit einem Nachwort von Karen Michels, Hamburg 1998).
Anthony Vidler: The Idea of Type: The Transformation of the Academic Ideal, 1750-1830, in: Oppositions 8, 1977, S. 95-115.
Werner Oechslin: Per una ripresa della discussione tipologica, in: Casabella 509/510, 1985, S. 66-75. In englischer Übersetzung erschienen unter: Premises for a resumption of the discussion of typology, in: Assemblage 1, 1986, S. 37-53.
Zitierte Homepages
www.baumeister.de/typologien-der-architektur/
ages.rwth-aachen.de/cms/AGES/Studium/Lehre-Archiv/Lehre-SoSe-2018/~ssko/V-Bautypen-und-Bauformen-II/