Zwischen den Mauern von Paris
Ein Spaziergang zum Thema sozialer Wohnungsbau
In Paris zu wohnen kann sich nicht jeder leisten: Fast 40 Euro Miete kostete in den letzten Jahren der Quadratmeter einer Einzimmerwohnung im Schnitt, in manchen Lagen auch mal an die 80. Die französische Hauptstadt stößt an ihre Grenzen und dabei natürlich vor allem an die finanziellen Grenzen großer Teile ihrer Bevölkerung. Das Problem ist aber nicht etwa neu. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte Louis-Sébastien Mercier die Wohnungsmisere in deutlichen Worten beschrieben, die schriftlichen Zeugnisse der folgenden Jahrzehnte sprechen dieselbe Sprache. Wohnen als Grundrecht und die mit dieser Idee verbundenen Debatten und Lösungsversuche sind ein strukturelles Problem mit einer longue durée.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in der französischen Metropole erste Modelle entwickelt, der Wohnungsmisere gerade in der Arbeiterschicht zu begegnen, einzelne Musterbeispiele mit teilweise bis heute erstaunlichen architektonischen Lösungen wie die Cité Napoléon wurden realisiert. Seit etwa 1900 schließlich erfolgte in mehreren Schritten eine Entwicklung zum sozialen Wohnungsbau, dessen erster großer Kulminationspunkt – die Erfahrungen der gemeinnützigen Stiftungen und Genossenschaften weiterführend – die Bebauung des frei gewordenen Stadtmauerareals nach 1920 darstellt. Es folgten jene Debatten und ihre Umsetzungen, die wir auch aus dem internationalen Diskurs kennen: Wiederaufbau, Trennung der städtischen Funktionen, Großwohnsiedlungen, innerstädtische Turmbauten, die Wiederentdeckung der Stadt mit ihrer Thematisierung des Blockrands sowie neue Wohn- und Finanzierungskonzepte aus den letzten Jahrzehnten.
Am 13. Dezember 2000 erließ der französische Staat ein Gesetz, mit dem der soziale Wohnungsbau auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Das SRU genannte Papier (solidarité et renouvellement urbain) forderte von allen größeren Gemeinden in Agglomerationsgebieten die Bereitstellung von 20% Sozialwohnungen, seit einer Novellierung aus dem Jahr 2013 sogar 25%. Heute leben in Frankreich 17 Prozent der Bevölkerung mit einer sozial durchmischten Zusammensetzung von den einkommensarmen bis zu den Mittelschichten, also etwa elf Millionen Mieter, in nahezu fünf Millionen Sozialwohnungen. Diese werden von gemeinnützigen Wohnungsunternehmen unterhalten, von denen 253 öffentlich, 220 privat und 165 genossenschaftlich organisiert sind. Weitere 56 gehören (noch) der Gesellschaft zur sozialen Förderung des Erwerbs von Wohneigentum – die Accession sociale à la propriété. Alle 694 Unternehmen sind staatliche Zuschussempfänger, auch um die Mieter selbst und ihre Mietkosten zu unterstützen.
2018 wurde vom französischen Parlament eine Veränderung des Systems beschlossen, um mehr Flexibilität und mehr Quantität im Wohnungsbau zu erreichen: Mit der solidarischen Mietminderung (Réduction de Loyer de Solidarité = RLS) wurden die Sozialleistungen gekürzt, im gleichen Zug die Monatsmiete um denselben Betrag gesenkt. Was für den Staat Einsparungen bedeutet, zieht für die sozialen Wohnungsbaugesellschaften einen deutlichen Einnahmeverlust nach sich. Der Staat kompensiert diesen Ausfall mit kaum ausreichenden Entschädigungen an die Unternehmen. Gleichzeitig aber setzt der Staat auch auf die Förderung des Verkaufs von Sozialwohnungen an die Mieter, mittlerweile wird sogar der Verkauf ganzer Einheiten an juristische Personen betrieben, ein Ausverkauf des Bestands. Das gesamte, eher kontrovers diskutierte Paket wird durch eine neue Société Anonyme de Coordination (SAC) umgesetzt und kontrolliert. Ein nicht unerheblicher Teil des sozialen Wohnungsbaus droht damit auch in Frankreich dem Immobilienmarkt überlassen zu werden.
Ein Seminar des Studiengangs Architektur der UdK widmete sich im Sommersemester 2019 den architektonischen und städtebaulichen Lösungen der Pariser Wohnungsbaudebatte der vergangenen zwei Jahrhunderte. Etwa 100 hierzulande eher unbekannte und unzureichend publizierte Projekte wurden besucht und diskutiert. Fast alle liegen zwischen den beiden letzten Stadtmauern von Paris, in den sogenannten faubourgs, und damit jenseits der üblichen touristischen Wege. Die Entzifferung dieses Stücks Paris mündet in die vorliegende vergleichende Dokumentation des Fachgebiets Architekturgeschichte + Architekturtheorie, und versammelt einen nicht unerheblichen Querschnitt zum Thema sozialer Wohnungsbau von 1849 bis heute.
Matthias Noell