Jahresthema 2023/24: Amnesie // Amnesia
Amnesie / Amnesia
Der Begriff „Amnesie“ geht auf Hippokrates (ca. 460-370 v. Chr.) zurück, der als Vater der europäischen Medizin gilt. Er beschrieb damit Gedächtnisstörungen und Gedächtnisverluste und legte die Grundlage für Jahrhunderte extensiver Forschung. In nichteuropäischen Gesellschaften wurde das „Prinzip des Vergessens“ schon in früheren Schriften untersucht.
Trotz allem bleiben bis heute Fragen: Warum vergessen wir? Was verdrängen wir? Weshalb ignorieren wir Fakten, als Individuen, als Gesellschaften? Und welche Narrative bilden wir, wieder und wieder, um die produzierten Leerstellen?
In den 1990er Jahren wurde das postkoloniale Konzept der „kolonialen Amnesie“ entwickelt. Es kritisiert, wie ehemalige Kolonialmächte und deren Gesellschaften oft dazu neigen, die negativen Aspekte kolonialer Macht- und Herrschaftssysteme zu verdrängen, zu verleugnen oder zu vergessen und verweist auf die selektive Erinnerung nach dem Ende des Kolonialismus. Dabei werden die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen ignoriert. Mehr noch: Häufig wird auch „amnesiert“, dass sich der Kolonialismus auch auf Erkenntnis- und Repräsentationssysteme wie Sprache, Medien, Kunst, Kultur und Architektur erstreckte und ungebrochen bis in die Gegenwart fortwirkt. Dabei ging nicht nur nichteuropäisches Wissen verloren, sondern auch andere Formen von Wissen; allem voran verkörpertes Wissen.
Die Rolle der Technologien bei der Fortschreibung von Ausblendungen ist dabei nicht zu unterschätzen – und wird durch die Allgegenwärtigkeit digitaler Systeme und Künstlicher Intelligenz noch verstärkt. Programmiert von zumeist jungen *weißen* Männern im Silicon Valley kommen künstliche neuronale Netze bereits mit einer Form von Amnesie in die Welt. Trainiert mit Daten aus dem Internet, die ebenfalls nur Fragmente des Weltwissens repräsentieren, wird diese Amnesie weitergegeben; Stereotypen und Bias werden in Feedbackloops automatisch potenziert. Doch nicht nur die Maschine blendet aus. Wir alle nutzen Computer und verdrängen, dass ihre Fertigung auf radikaler Ausbeutung von Menschen und Erden beruht, dass der exponentiell steigende Energiebedarf zur Klimakatastrophe beiträgt.
2007 prägte der britisch-australische Schriftsteller Clive James den Begriff der „kulturellen Amnesie“, den er als schleichenden Prozess beschreibt, der nicht nur im Zuge des technologischen Fortschritts, sondern auch bei Generationswechsel, Globalisierung oder unvorhersehbaren Ereignissen wie einer Pandemie eintreten kann. Dabei geht häufig das kulturelle Gedächtnis verloren, so dass Fehler wiederholt oder Lehren aus der Vergangenheit vergessen werden. Kein unvermeidlicher Prozess!
In diesem akademischen Jahr wollen wir uns Ereignissen, Machtverhältnissen, Wissen, Körpern, Orten und Zeiten widmen, die ausgeblendet werden – individuell oder kollektiv, unbewusst oder willentlich. Wir suchen, wir untersuchen, wir kartographieren, kuratieren und vergegenwärtigen. Wider das Vergessen experimentieren wir mit unterschiedlichen Methoden des Sichtbar-, Hörbar- und Erfahrbarmachens, mit komplexen Formen analytischer und künstlerischer Dokumentation sowie ausgelassener spekulativer Narration, Fiktion und Sachlichkeit.