Jahresthema 2024/25: Kipppunkte
Kipppunkte
Unsere Welt verändert sich ständig. Zumeist unmerklich, durch kontinuierliche Anpassungen und Aushandlungsprozesse jenseits unserer Wahrnehmungsschwelle. Manchmal aber ist auch wie über Nacht alles radikal anders. Einem kleinen Ereignis gelingt es, scheinbar stabile Verhältnisse auf den Kopf zu stellen; eine kritische Masse ist erreicht, die eine Situation, eine Stimmung oder ein System kippen lässt – und danach ist nichts mehr wie zuvor.
Kipppunkte lassen sich in allen Bereichen beobachten. Am einfachsten in der Physik, wo ein warmes Maiskorn solange ein warmes Maiskorn ist, bis es bei 163 Grad Celsius unumkehrbar zu Popcorn wird. Am relevantesten in der Klimaforschung, wo über Dominoeffekte der Erderwärmung eine katastrophale Tipping Point-Kaskade erwartet wird. Und auch in Politik, Psychologie, Biologie, Evolution, Mediengeschichte, Musik, Mode und Kunst lassen sich Kippunkte beobachten: Der Moment, wo aus Mutationen neue Lebensformen werden, aus versagenden Demokratien Diktaturen, aus ungeliebten Nachbarn Feinde, aus Lügen alternative Fakten, aus Underground Mainstream, aus Faszination Langeweile, aus Rauschen Klang, aus Anomalien Muster – und nicht selten neue Regeln.
Historische Kipppunkte haben Gesellschaften grundlegend verändert. Die Französische Revolution, bei der sich lange gärender Unmut über soziale Ungleichheiten in einen revolutionären Aufstand verwandelte, hat die politischen Strukturen Europas nachhaltig beeinflusst. Die industrielle Revolution hat traditionelle Arbeitsformen und globale Ökonomien fundamental umgewälzt. Der digitalen Kultur sind Kipppunkte quasi eingeschrieben, da ihre technologische Entwicklung exponentiell verläuft und auch so gefeiert wird: „Disruption“ ist erklärtes Ziel des Silicon Valley.
Stimmt es, dass Künstler*innen, wie der Medientheoretiker Marshall McLuhan behauptete, solch anstehende Veränderungen wie Seismographen erspüren und in ihren Werken vorwegnehmen können? Kann Kunst neue Szenarien entwerfen, Kipppunkte aufhalten, bremsen oder gar umkehren?
Das aktuelle Jahresthema lädt dazu ein, Kipppunkte interdisziplinär und aus vielfältigen Perspektiven zu untersuchen. Gemeinsam erforschen wir, welche Faktoren dabei wirken und welche Folgen sie für Gesellschaft, Umwelt und Kultur haben. Ziel ist es, nicht nur vergangene und gegenwärtige Kipppunkte zu analysieren, sondern auch zukünftige kritisch und kreativ zu antizipieren.