Bürgertum und Bohème. Kunstkriege vom 19. Jahrhundert bis heute
Cord Riechelmann
Bürgertum und Bohème. Kunstkriege vom 19. Jahrhundert bis heute
Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Donnerstags, 16-20 Uhr, Hardenbergstr. 33: 27.4. (Raum 151), 4.5. (Raum 110), 11.5. (Raum 151), 1.6. (Raum 110), 15.6. (Raum 110), 29.6. (Raum 110), 6.7.2023 (Raum 151)
Registration on Moodle starts on the 17th of April / Anmeldung auf Moodle beginnt am 17.4.2023: https://moodle.udk-berlin.de/moodle/course/view.php?id=1842
Moodle Enrollment Key / Einschreibeschlüssel: hochkultur
Praktisch über die ganze überlieferte Geschichte waren die Schöpfer*innen der Hochkultur – Maler*innen, Bildhauer*innen, Komponist*innen, Architekt*innen, Erzähler*innen, Dichter*innen – voll in ihre Gesellschaften integriert und willige Diener*innen der Macht. Selbst Verbannte wie Dante oder Machiavelli bewahrten der Gesamtgemeinschaft ihre Treue. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jhdts aber kam es zu einer radikalen Unterminierung dieser stillschweigenden Übereinkunft. Künstler*innen machten zunehmend die Gesellschaft selbst zum Ziel ihrer Angriffe. Dabei waren sowohl das Ziel wie auch die Klasse der Produzent*innen dieser „symbolischen Subversion“ (Bourdieu) relativ neu in ihren Rollen. Die Bürger*innen, mal als „Bildungsphilister“ (Nietzsche) oder als Wissens- und Geschmacksidioten (Flaubert) verunglimpft, waren erst durch die französische Revolution auch zu politischer Macht gelangt und die Boheme, dieses Laboratorium neuer Formen von Kunst und Lebenskunst, verdankte seine Existenz überhaupt nur den in Folge der Revolution nicht nur in Frankreich einsetzenden Bildungsreformen. Durch den Zuzug von Provinzkindern, die von der Fata Morgana einer akademischen oder literarischen Karriere angezogen wurden, in die Städte entstand erst die beispiellose Zunahme einer Population von Schriftsteller- und Maleraspirant*innen, die jene kulturelle Reservearmee bildeten, aus der sich neue kulturelle Produktionsformen wie Journalismus, Massenromane und Kunst- wie Literaturkritik bedienen konnten. Gleichzeitig bot die Boheme einen Markt für häretische Produktionen, die vom 19. Jhd. bis heute den Anlass für Kunstkriege aller Art liefern. Im Seminar soll, ausgehend von Bourdieus Analyse der Revolution der Malerei Manets und ihrer Bedingungen, gefragt werden, inwiefern sich daraus Konstellationen für z.B. die heutige Kunstkritik ableiten lassen oder auch nicht.
Literatur:
Etienne Balibar / Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Argument Classics 1998.
Pierre Bourdieu: Manet. Eine symbolische Revolution. Suhrkamp 2015.
Peter Gay: Bürger und Boheme. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts. C.H. Beck 1999.
W. David Marx: Status and Culture. How our Desire for Social Rank creates Taste, Identity, Art, Fashion, and Constant Change. Viking 2022.
Franco Moretti: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne. Suhrkamp 2014.
Karl Mannheim: Soziologie der Intellektuellen. Suhrkamp 2022.
Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Suhrkamp 2023.
Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: Regelmäßige aktive Teilnahme – insbesondere aktives Zuhören, Mitdenken und Argumente entwickeln.
Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003)„Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004) und Herausgeber "Zu einer Ästhetik des Lebendigen" (2015). Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. 2013 erschien das Buch „Krähen. Ein Porträt“ bei Matthes & Seitz, "Vögel" (2021) im Dudenverlag, zuletzt „Leichtes Unbehagen. Von Menschen und anderen Tieren“ (2022) zusammen mit Rosemarie Trockel im Verlag der Buchhandlung Walther König. Riechelmann schreibt für diverse Zeitungen u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die taz und cargo. Er unterrichtet wiederkehrend im Studium Generale der Universität der Künste Berlin.