Die Nacht der Proletarier
Cord Riechelmann
Die Nacht der Proletarier
Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 16-19:30 Uhr, circa zweiwöchentlich, 8 Termine: 25.10., 8.11., 22.11., 6.12.2022, 3.1., 17.1., 31.1., 14.2.2023, Hardenbergstr. 33, Raum 102
Anmeldung ab 17.10.2022 auf Moodle: https://moodle.udk-berlin.de/moodle/course/view.php?id=1666
Moodle Einschreibeschlüssel / Moodle Enrollment Key: proletarier
Als der Tischler Gauny um 1830 in einer Villa in Paris das Parkett verlegte, befand er sich in einer Situation des Klassenkampfs. Er verkaufte die Arbeit seiner Hände zugunsten des Profits eines Chefs. In diesem Prozess gab es, wie Gauny schrieb, einen Moment, in dem sich sein Blick von der Arbeit seiner Hände löste und die Schönheit der Perspektive, der Gebäude und der Gärten rundherum erfasste. Für Jacques Rancière, der sich in seiner Studie „Die Nacht der Proletarier“ auch mit den Schriften Gaunys beschäftigt, beginnt mit der Fähigkeit des Blicks, sich von den Händen zu trennen, der emanzipatorische Prozess, der die Handwerker und Arbeiterinnen von Paris zur Julirevolution von 1830 führt. Die Veränderung des Blicks, die den Blick von der bloßen Begleitung der Arbeit der Hände wegführt, eröffnet einen neuen Weltwahrnehmungsraum. Der Blick dissoziiert sich vom Körper, trennt sich von den Händen und verändert schließlich auch die Funktion der Hände: die Arbeiterinnen gehen nachts nicht mehr schlafen, wie für sie vorgesehen, sondern beginnen zu schreiben, Gedichte und Texte zu schreiben.
Rancière hatte aus der Analyse der Texte der Handwerker der Julirevolution den Schluss gezogen, dass die Revolte von einem Wandel der Wahrnehmung, von einem ästhetischen Impuls wesentlich in Gang gesetzt worden war. Damit hatte Rancière die Gegenposition von Bourdieus großer Studie „Die feinen Unterschiede“ bezogen. Nach Bourdieu war das ästhetische Urteil dem bürgerlichen Geschmack vorbehalten, die „einfachen“ Leute hatten nur einen Geschmack der Notwendigkeit. Auf der Basis der beiden Texte sollen im Seminar die emanzipatorischen Möglichkeiten der Kunst auch an Praktiken der Gegenwartskunst einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
Literatur:
Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp 1987.
Derselbe: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Suhrkamp 1974.
Marx, Karl: der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. (Jede Ausgabe willkommen.)
Rancière, Jacques: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums. Turia + Kant 2013.
Derselbe: Der Philosoph und seine Armen. Passagen Verlag 2010.
Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium Generale Leistungsschein: aktive, regelmäßige Teilnahme und Textlektüre.
Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003), „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004) und Herausgeber „Zu einer Ästhetik des Lebendigen“ (2015). 2008 erschien eine Sammlung der Stimmen der Tiere Europas, Asiens und Afrikas, 3 CDs bei kein und aber. Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. 2013 erschien das Buch „Krähen. Ein Porträt“ bei Matthes & Seitz, zuletzt „Vögel“ (2021) im Dudenverlag. Riechelmann schreibt für diverse Zeitungen u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die taz und cargo. Er unterrichtet wiederkehrend im Studium Generale der Universität der Künste Berlin.