Wir gegen die anderen: Polarisierung in der Gesellschaft
Prof. Dr. Philipp Hübl
Wir gegen die anderen: Polarisierung in der Gesellschaft
Online-Vorlesung (als Vorlesung ODER Seminar anrechenbar), Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 18-20 Uhr, wöchentlich ab 26.10.2021
Anmeldung bis zum 7.11.2021 über die Moodle-Plattform:
https://moodle.udk-berlin.de/moodle/course/view.php?id=1254
Passwort: Polarfuchs
Weltweit vergrößert sich der Riss zwischen Modernist*innen und Traditionalist*innen, Progressiven und Konservativen, „Anywheres“ und „Somewheres“, „Entdecker*innen“ und „Verteidiger*innen“. Dabei geht es um die grundlegende Frage, welche Werte und Normen ein gutes Leben und eine gerechte Gesellschaft ausmachen, also um unsere moralische Identität. Risse ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Die neuen Bruchlinien verlaufen zwischen Alt und Jung, Land und Stadt, Tatort und Netflix, Auto und Fahrrad, Kaufhaus und Kleiderkreisel, Prekariat und Akademikerklasse, Ehe und Polyamorie, Nationalismus und Kosmopolitismus, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Als Reaktion auf diese Risse ergeben sich drei Möglichkeiten: mehr Offenheit wagen, beim Alten bleiben oder reaktionär werden. Ein Teil der Bevölkerung reagiert auf den progressiven Wandel mit radikalem Trotz: Sie werden zu Querdenkern, Nationalistinnen oder religiösen Fanatiker*innen. Ein anderer Teil, die Revolutionäre, stellen alles infrage, was irgendwie an die „problematische“ Tradition erinnert: die Polizei, den freien Markt oder sogar die Errungenschaften der Aufklärung.
Sobald sich Menschen großen, unpersönlichen Gruppen wie den „Linken“, den „Liberalen“ oder den „Neuen Rechten“ zuordnen, verschieben sie ihre Positionen von der Mitte zu den Rändern. Einige radikalisieren sich, weil sie in der Echokammer immer die gleichen Meinungen hören, andere aus Gruppenzwang, weil sie fälschlich annehmen, dass all ihre Gesinnungsgenoss*innen eine extremere Auffassung vertreten.
So ergeben sich starke Außenpositionen mit einer eingedellten Mitte. Die Verteilungskurve sieht dann nicht mehr wie der Höcker eines Dromedars aus, sondern eher wie der eines Kamels. In der politischen Landschaft der USA beispielsweise ist das schon lange der Fall. In Deutschland kann man Polarisierung vor allem an den politischen Rändern und in der öffentlichen Diskussion beobachten. Es werden Stellvertreterdebatten zu Themen wie „Kopftuch“, „Gendern“, „Energiewende“ geführt, die hauptsächlich der moralischen Selbstdarstellung dienen. Symbolpolitik ersetzt an vielen Stellen den politischen Kompromiss und konkrete Lösungen. Während intellektuelle Polarisierungen Positionen schärfen könnten, führt die affektive Polarisierung in sozialen Netzen zu Konformitätsdruck, Empörungserschöpfung, moralischer Vereindeutigung und Freund-Feind-Denken.
In der Vorlesung werden wir uns mit Polarisierung, Stammesdenken, dem progressiven Wertewandel und dem autoritären Backlash, mit Identitätspolitik und digitaler Disruption auseinandersetzen und dabei Ansätze aus der Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft, Medientheorie, Kulturwissenschaft und Philosophie kennenlernen. Vor allem werden wir gemeinsam überlegen, wie sich das Denken entpolarisieren lässt.
Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: regelmäßige und aktive Teilnahme, Kurzfragen zu ausgewählten Sitzungen.
Philipp Hübl
ist Philosoph und Autor der Bücher „Die aufgeregte Gesellschaft“ (2019), „Bullshit-Resistenz (2018), „Der Untergrund des Denkens“ (2015) und „Folge dem weißen Kaninchen“ (2012) sowie von Beiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Themen, unter anderem in der Zeit, FAZ, taz, NZZ, auf Deutschlandradio und im Philosophie Magazin. Hübl hat Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Universität Berlin und zuletzt als Juniorprofessor an der Universität Stuttgart gelehrt. Studium der Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford. Seit dem WS 2020/21 ist Philipp Hübl Gastprofessor für Kulturwissenschaften im Studium Generale der UDK Berlin. Weitere Informationen unter philipphuebl.com.