Zum guten Schluss – oder: Warum man schon in Pasewalk aussteigen sollte
Dr. Andrea Klitzing
Zum guten Schluss – oder: Warum man schon in Pasewalk aussteigen sollte
Analoges Seminar, 2 SWS, 2 ECTS, offen
Mittwochs, 12-14, wöchentlich ab 27.10.2021, Fasanenstr 1B, Raum 212
Um Anmeldung spätestens bis 22.10. unter a.klitzing wird gebeten. @udk-berlin.de
Achtung: Für Studierende der Fakultät Musik nicht als Studium-Generale-Leistung anrechenbar!
Der Schluss eines musikalischen Werks ist geprägt durch seine doppelte Funktion. Zum einen ist er – dem Ab-schluss der Rede, den rhetorischen Gesetzen der Conclusio gemäß – eine Zusammenfassung der wichtigsten vorausgegangenen musikalischen Argumente, wie man sie zum Beispiel im Fugato des letzten Satzes der Mo-zart Sinfonie KV 551 findet. Auch der Orgelpunkt in der (barocken) Fuge bestätigt diese Aufgabe. Er gleicht einer Zielgeraden, auf deren letzten Metern das gesamte thematische Material kumuliert. Zum anderen weist ein Schluss mit dem Titel „Finale“ über sich hinaus auf das, was sich als akustische Demarkation erst nach dem klin-genden Werk als dessen wahres Ende herausstellt: Stille. Schlüsse neigen als Stretta, Coda und Akt-Finale zur Eskalation. Durch Engführungen, Rotationen, substanzielle Reduktionen, Steigerungen von Tempo und Lautstärke öffnen sie sich über die Stille hinweg zu einem mit Beifall interagierenden Publikum. In dem Text Der Grundakkord aus dem Jahr 1931 setzt Kurt Tucholsky den Schluss einer Komposition mit dem Ende des Lebens gleich. Er skizziert Möglichkeiten, sich dem absoluten Schluss zu entziehen, indem man ein Klavierstück auf der Dominante beendet oder vorzeitig – das heißt: in Pasewalk – den Zug verlässt. Hans Eisler findet einige Jahre später am Ende seiner Vertonung An den kleinen Radioapparat eine musikalische Entsprechung für die in dem Brechtgedicht artikulierte Furcht vor dem Verstummen seiner Feinde. Froh und gut wird der Schluss in der Opernkonvention des 17./18. Jahrhunderts nicht selten erst im letzten Mo-ment durch den beherzten Zugriff des Deus ex machina aus dem Seilboden, der das lieto fine herbeiführt. Instru-mental- und tontechnische Fadeouts sorgen seit dem 20. Jahrhundert für das Ausblenden eines Werks, das durch diesen Kunstgriff nachweislich über sein Ende hinaus in Hörer:innen weiterklingt und -lebt. Zirkuläre For-men, wie Rondeaus, Chacconen, Passacaglien, Variationen sowie Strukturen rituell-sakraler Musik und des Technos widersetzen sich dem Schluss. Sie schließen, wie sie begonnen haben und unterstreichen damit sym-bolisch ihre Nähe zur Unendlichkeit. In Anlehnung an die Veranstaltung „Intro – und Introduktion“, welche die Eröffnungen von Musik zum Gegen-stand hatte, werden in dem Seminar „Zum guten Schluss“ die Ursprünge und Traditionslinien ihrer Schlüsse aus musikwissenschaftlicher und -ästhetischer, aber auch aus phänomenologischer und anthropologischer Sicht erforscht.
Leistungsanforderungen: regelmäßige, aktive Teilnahme
Andrea Klitzing studierte Querflöte und Traversflöte sowie Musikwissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft. 2020 veröffentlichte sie ihre Dissertation unter dem Titel "Don Giovanni unter Druck". Sie arbeitet als Flötistin mit zahlreichen Ensembles für Alte Musik, leitet seit 2001 das ensemble1800berlin und ist an der Universität der Künste Berlin als Lehrbeauftragte im Fachbereich Musik tätig. Seit 2020 geht sie im Rahmen des digitalen Forschungsprojektes »Beethoven-Räume und Kammern« der systematischen Erfassung von Beethoven-Transkriptionen nach.