Feministische dekoloniale Gesten und Ästhetik
Pary El-Qalqili
Feministische dekoloniale Gesten und Ästhetik
Analoges Seminar, Deutsch/English, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 14-18 Uhr, 8 Termine: 9.11., 23.11., 7.12., 21.12.2021 (online), 4.1., 18.1., 1.2., 15.2.2022
Hardenbergstr. 33, Raum 004
Attention: the seminar is full.
"Life is not a (Western) drama of four or five acts. Sometimes it just drifts along; it may go on year after year without development, without climax, without definite beginning or endings." (Trinh T. Minh ha-1989: 143)
„Die Insel dreht sich”, sagt Fatima Youssouf auf die letzte Frage des Interviewers für das „Archiv der Flucht”, das am HKW Oral-history Gespräche mit Menschen, die geflüchtet sind, versammelt. Sie entzieht sich damit der üblichen Heldengeschichte, verweigert Höhepunkt, Anfang, Mitte, Ende und unterläuft die "killer story", die sie ihrer Menschlichkeit berauben würde (Ursula K. Le Guin 1988).
Betrachten wir die Gesprächssituation genauer stellen sich mehrere Fragen: Wie ist das Machtverhältnis zwischen Interviewer*innen und Befragten? Hört die Interviewer*in ihr Gegenüber? Wie ist das Bild gestaltet? Wie wird über die Montage verdichtet? Und inwiefern bleibt auch dieses Archiv in einer “kolonialen Matrix” (AnÍbal Quijano 2000) verhaftet und produziert „epistemische Gewalt“ (Gayatri Spivak 1988)? Postkoloniale Autor*innen haben aufgezeigt, dass der Versuch des marginalisierten Subjekts zu sprechen oft unmöglich ist (ebd. 1996). Gleichzeitig ist „Repräsentation als eine Praxis, die das Schweigen lesen möchte (…) beständig in Gefahr, selbst Schweigen zu produzieren“ (Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan 2007/2006; Dhawan 2005).
Aus dieser Ambivalenz ergibt sich nicht nur die Frage wer spricht, schreibt und produziert? Sondern auch: Wie hören wir zu? Und welche ästhetische Form entwickeln wir um dem Schweigen unseres Gegenübers Raum zu geben und die unerzählten Geschichten zu erzählen? Walter Mignolo schlägt das Instrument der „dekolonialen Geste” vor um koloniale Wissensproduktion zu durchkreuzen (ebd. 2014). Rita Laura Segato ruft zu einem zeitgenössischen Feminismus auf, der dekoloniales Denken und eine Kritik am Patriarchat verschränkt (ebd. 2021).
In dem Seminar fragen wir schließlich: Inwiefern können feministische dekoloniale Gesten für unsere eigene künstlerische Arbeit und Forschung fruchtbar sein? Welche ästhetische Formen, auditive, visuelle und narrative Strategien können wir entwickeln um kanonische Erzählweisen zu durchkreuzen, zu irritieren oder auch zu verlassen?
Das Seminar kombiniert den Besuch des Archivs der Flucht, praktische Übungen des aktiven Zuhörens (u.a. Haytham El-Wadarny „How to disappear”), das Lesen und Diskutieren feministischer dekolonialer Texte (Rita Laura Segato, Maria Lugones, Donna Haraway, bell hooks, Gloria Anzaldùa, Toni Morrison, Trinh T. Minh-ha, Gayatri Spivak, Grada Kilomba) und das Sichten von Filmen, die patriarchale und koloniale Strukturen, sowie fixierende Blickregime (Fanon 1952) offenbaren.
Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium Generale Leistungsschein: Regelmäßige und aktive Teilnahme, Essay (4-5 Seiten) oder eine eigene künstlerische Arbeit.
Pary El-Qalqili ist Autorin und Regisseurin und lebt in Berlin. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften (Europa Universität Viadrina) studierte sie Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. In ihrer filmischen Arbeit erforscht sie fragmentarische Erzählweisen zu Leben im Exil, kolonisiertem Leben und Gewaltverhältnissen. Ihre bisherigen FIlme sind u.a. „Schildkrötenwut“, „Human Resource“, „Zooland“, „Nachbarn“. Sie ko-kuratierte „After the last sky. A festival in Berlin transgressing the boundaries of Palestinian life and identity“ am Ballhaus Naunynstrasse, gründete die Plattform #nichtmeintatort für feministisch intersektionale Filmkritik und arbeitet filmpolitisch zu intersektionaler Gendergerechtigkeit. 2022 erscheint in Co-Autorenschaft mit Gürsoy Doğtaş die Studie „Die Beharrlichkeit des strukturellen Rassismus im Kulturbetrieb“ beim transcript Verlag.