Neueste Erkenntnisse über Antisemitismus

In den letzten Jahren hat die Forschung zum Antisemitismus neue Dimensionen und Facetten eröffnet. Wissenschaftler*innen untersuchen nicht nur die historischen Wurzeln, sondern auch die aktuellen Erscheinungsformen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Diese Studien beleuchten die Rolle von Medien, sozialen Netzwerken und politischen Diskursen bei der Verbreitung antisemitischer Stereotype. Die gewonnenen Erkenntnisse sind entscheidend für das Verständnis und die Bekämpfung von Antisemitismus in der heutigen Gesellschaft.

Neueste Studien und Veröffentlichungen

Gebildeter Antisemitismus an Universitäten in Deutschland – Orte der Toleranz?

Erschienen 2025 im Nomos Verlag

Universitäten sind zentrale Orte der Bildung, Forschung und gesellschaftlichen Debatte. Sie prägen zukünftige Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger und gelten als Orte der Offenheit und des kritischen Denkens. Doch auch hier ist Antisemitismus ein wachsendes Problem.

Die neue Forschungsarbeit im Bereich der interdisziplinären Antisemitismusforschung „Gebildeter Antisemitismus an Universitäten in Deutschland – Orte der Toleranz?“ beleuchtet ein alarmierendes Phänomen: Antisemitismus ist längst nicht mehr nur ein Randproblem extremistischer Gruppen, sondern zeigt sich zunehmend im akademischen Milieu. Zwischen 2019 und 2021 wurden laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) mindestens 31 antisemitische Vorfälle an deutschen Universitäten dokumentiert – hinzu kommen umstrittene Veranstaltungen, antisemitische Inhalte in Seminaren und die Verbreitung anti-israelischer Boykottkampagnen wie BDS.

Besonders problematisch: Antisemitismus in akademischen Kreisen tritt oft in subtiler Form auf, getarnt als vermeintliche „Israelkritik“. Wissenschaftlerinnen wie Monika Schwarz-Friesel weisen darauf hin, dass dieser „gebildete Antisemitismus“ durch rhetorische Strategien und Camouflage-Techniken besonders gefährlich ist – er sickert unbemerkt in den öffentlichen Diskurs ein und wird gesellschaftlich kaum hinterfragt.

Trotz der Relevanz dieses Themas gibt es bislang nur wenige empirische Untersuchungen zu Antisemitismus an Hochschulen. Bereits 2017 kritisierte der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestags diese Forschungslücke. Diese Studie leistet nun einen wichtigen Beitrag, um Antisemitismus unter Studierenden und in akademischen Kreisen besser zu verstehen – und um Strategien zur Aufklärung und Prävention zu entwickeln.

Hier zum Download der Forschungsarbeit.

Dunkelfeldstudie

Die Dunkelfeldstudie von Heiko Beyer, Lars Rensmann, Hanna Brögeler, David Jäger, Carina Schulz bietet neue Einblicke in die Formen, Ausprägungen und das Vorkommen von Antisemitismus in der nordrhein-westfälischen Gesellschaft. Sie untersucht spezifische Kontexte, Milieus sowie geografische und demografische Faktoren. Besonders hervorzuheben ist das weit verbreitete „antisemitische Grundrauschen“ (Hanna Veiler, zitiert nach Schmidt 2024), das den dramatischen Anstieg antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 – von Graffitis bis zu Bedrohungen und körperlicher Gewalt – erklärt.

Die Studie unterscheidet vier Erscheinungsformen des Antisemitismus: religiöser Antisemitismus, moderner (oder tradierter) Antisemitismus, sekundärer (oder holocaustbezogener) Antisemitismus sowie israelbezogener Antisemitismus. Darüber hinaus werden drei Kommunikationsformen des Antisemitismus differenziert: offener (direkter), camouflierter (indirekt über Codes kommunizierter) und tolerierter Antisemitismus (Haltung zu antisemitischen Äußerungen anderer). Besonders der camouflierte Antisemitismus ist beim modernen Antisemitismus verbreitet, da dieser in der bundesdeutschen Gesellschaft oft als tabuisiert gilt.

Hier zum Download der Studie.

Bundesweite Studie zu den Auswirkungen des terroristischen Anschlags am 7. Oktober 2023 auf die jüdische und israelische Community in Deutschland

Der Angriff auf Israel durch die Terrororganisation Hamas am 7.10.2023 markiert für die jüdische und israelische Community in Deutschland einen tiefen Einschnitt. Jüdinnen_Juden stehen vor der Aufgabe, die traumatischen Folgen des tödlichen Angriffs und der damit einhergehenden antisemitischen Bedrohung zu bewältigen. Die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes geförderte Studie untersucht ab Februar 2024 das Erleben der Phase seit dem 07.10.2023 aus den Perspektiven von Jüdinnen_ Juden verschiedener Generationen und sozialer Hintergründe im urbanen und ländlichen Raum in Deutschland. Mit narrativen Interviews, Gruppendiskussionen und der Dokumentation von Selbstbeobachtungen werden die Wahrnehmungen, Einordnungen und Auswirkungen aus jüdischen Perspektiven erhoben. Dabei werden Veränderungen der Verarbeitungsprozesse im zeitlichen Verlauf und im Zusammenhang mit früheren und aktuellen Ereignissen rekonstruiert. Die Studie wird von unseren Kooperationspartner*innen am Forschungsbereich des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung und der FH Potsdam durchgeführt.

Bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung handelt es sich um eine Form kollektiver Gewalt, die sich gegen Gruppen richtet. Der Begriff der kollektiven Gewalt beschreibt die Gewaltanwendung durch Personen, die sich als Mitglied einer Gruppe sehen und andere Gruppen aus ideologischen Motiven heraus angreifen, um damit politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Ziele durchzusetzen (vgl. Wilkinson/Marmot 2003). Auf diese Weise trifft die kollektiv gerichtete Gewalt ganze Gemeinschaften und entfaltet ein traumatisches Potenzial (vgl. Auerbach 2022). Menschen, die unter Ausgrenzung und Verfolgung gelitten haben, erleben oft noch Jahrzehnte danach vielfältige Folgewirkungen (vgl. Moré 2015). Es ist anzunehmen, dass sich Antisemitismus auf das psychische und jedoch soziale Wohlbefinden von Betroffenen nachhaltig auswirkt. In der hiesigen Antisemitismusforschung wurden bislang die Auswirkungen antisemitischer Diskriminierung und Gewalt auf den Alltag, das Wohlbefinden und die Gesundheit von Jüdinnen und Juden bislang kaum untersucht.

Die Interviews werden auf Deutsch, Englisch, Hebräisch und Russisch geführt. Neben Interviews mit Erwachsenen aller Altersgruppen inkl. Studierenden beinhaltet das Sampling auch Interviewgespräche mit Kindern und Jugendlichen sowie Gruppendiskussionen mit Schüler*innen jüdischer Schulen. Die qualitativen Daten werden mit interpretativen und tiefenhermeneutischen Verfahren analysiert.

Mehr Infos hier

Erste Ausschnitte aus der Studie: Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland. Chernivsky, Marina/ Lorenz-Sinai, Friederike (2024). In: APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte: Antisemitismus. 74 Jg., 25-26 2024. S. 19-24. Hier online verfügbar.

 

Beiträge im Sammelband: Antisemitismus zwischen Latenz und Leidenschaft

Der vorliegende Sammelband dokumentiert die „2. Interdisziplinäre Antisemitismustagung für Nachwuchswissenschaftler:innen“, die vom 12. bis 14. Oktober 2022 an der Universität Trier stattfand.

„Wir haben noch keinen Begriff davon und wir haben noch keinen Begriff dafür“ (Rabinovici 2024: 15). Was am 7. Oktober 2023 geschah, ließ selbst jene fassungslos zurück, die mit der jahrtausendealten Verfolgungsgeschichte der Jüdinnen:Juden bestens vertraut sind, die um die Pogrome in Antike, Mittelalter und Neuzeit wissen, sich intensiv mit der Geschichte des Holocausts auseinandergesetzt haben und sich mit antisemitischen Gewalttaten und Terrorismus in der Gegenwart tagtäglich befassen. Allen voran freilich Jüdinnen:Juden
in Israel und der Diaspora, die fast ausnahmslos in der eigenen Familiengeschichte mit Auslöschung, Verfolgung, Vertreibung, Enteignung und Diskriminierung konfrontiert sind. Mit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober ist einmal mehr eine „genozidale Botschaft“ (Diner 2023) an alle Jüdinnen:Juden weltweit explizit ausgesprochen worden. „Der 7. Oktober war kein Terroranschlag. Er war der Beginn eines neuen globalen antisemitischen Krieges, in dem alle Jüdinnen und Juden sich angegriffen fühlen, weil sie alle angegriffen werden“ (Schapira 2024). Die Gewaltorgien der Hamas und ihrer Verbündeten sollten „ganz explizit und unmittelbar vermitteln, dass sich ein neuer Holocaust jederzeit wiederholen kann“ (Hartmann/Ebbrecht-Hartmann 2024: 67). Die Drohung sollte das ohnehin oftmals fragile Sicherheitsgefühl von Israelis und Jüdinnen:Juden weltweit in den Grundfesten erschüttern und ein existentielles Bedrohungsszenario eröffnen. Und tatsächlich markiert der 7. Oktober einen fundamentalen „Bruch“ (ebd.: 70), einen „Wendepunkt“: „Tatsächlich wurde den Juden an diesem Tag der Boden unter den Füßen weggerissen“ (Illouz 2024: 46). Der „Ausnahmezustand“ ist seitdem zum „Normalzustand“ (Ott 2024) geworden – nicht nur in Israel, sondern in jüdischen Gemeinden und für Jüdinnen:Juden weltweit." (Marc Seul, Luca Zarbock, Salome Richter, Franziska Thurau, Gina Krewer 2024).

Vorträge

LET’S TALK. Der 7. Oktober, der Krieg in Gaza und die Folgen in Deutschland

Vortrag von Prof. Dr. Julia Bernstein, Antisemitismusforscherin an der Frankfurt University of Applied Sciences und Vorsitzende des Netzwerks jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Kurz vor dem ersten Jahrestag des 7. Oktober lud die Bildungsstätte Anne Frank vom 23. bis 25. September 2024 an drei Fokustagen zur Auseinandersetzung mit den Folgen des Terrors und des Gaza-Kriegs auf die Gesellschaft in Deutschland ein. Auch hier bildet der 7. Oktober 2023 eine Zäsur: Seit dem Überfall der Hamas und dem Krieg im Gaza-Streifen sind Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus in erschreckender Weise angestiegen. Es herrscht ein Klima der Angst – bei jüdisch und muslimisch gelesenen Menschen vor Angriffen und Ausgrenzung. Und in der Mehrheitsgesellschaft große Unsicherheit: Wie sich positionieren? Wie überhaupt über den Israel-Palästina-Konflikt sprechen? Bildungseinrichtungen sind ganz besonders von der aktuellen Situation betroffen. Wie können sie Orte des kontroversen Austauschs bleiben (oder werden) – und gleichzeitig Menschen vor Diskriminierung schützen? Wie können sie mit Protesten umgehen? Wie auf Hass und Polarisierung im Netz reagieren? Drei Fokustage widmeten sich den Schwerpunktbereichen Schule, Hochschule und NGOs.

Infos zum Netzwerk jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Zur Situation von Jüdinnen und Juden an deutschen Hochschulen nach dem 7. Oktober 2023

Vortrag zur Situation von Jüdinnen und Juden an deutschen Hochschulen nach dem 7. Oktober von Prof. Dr. Julia Bernstein (UAS Frankfurt), Vorsitzende des Netzwerks jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, der Schweiz und Österreich, im Rahmen der Ringvorlesung "Nach dem 7. Oktober: Wo beginnt der Antisemitismus gegen Israel?" an der Hochschule Hannover am 10.10.2024, Konzept und Organisation: Prof. Dr. Wolfram Stender.

Hier zum Vortrag.

 

taz-Gespräch mit Lars Rensmann und Ingo Elbe zur deutschen Erinnerungskultur: Anmerkungen zum Historikerstreit 2.0. Moderation: Jan Feddersen, taz-Redaktion

Lars Rensmann

Dr. Lars Rensmann ist DAAD Assistant Professor am Department of Political Science der University of Michigan, Ann Arbor (USA) und Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam.

Dr. Ingo Elbe promovierte in Berlin zum Thema Marx-Rezeption in Westdeutschland. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. Er veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur Marxismusforschung, zur politischen Philosophie und zum Thema Antisemitismus.

Hier zum Talk.

Material für Lehramtsstudierende

Amadeu Antonio Stiftung veröffentlicht Analyse zur Darstellung Israels in Berlin-Brandenburger Schulbüchern

Israel wird in Deutschland oft kontrovers diskutiert, etwa in Bezug auf Innenpolitik, den Nahostkonflikt und Menschenrechte. In Schulbüchern finden sich teilweise vereinfachte Darstellungen und Lücken in der Darstellung historischer Zusammenhänge. Jüdisches Leben in Deutschland wird häufig nur im Kontext der Shoah behandelt. Die Schule spielt eine wichtige Rolle im Umgang mit Israel und jüdischem Leben, jedoch wird Antisemitismusprävention oft vernachlässigt. In Zusammenarbeit mit dem Mideast Freedom Forum Berlin hat die Amadeu Antonio Stiftung eine Analyse von 16 Berliner Schulbüchern aus den Fächern Geschichte, Politische Bildung und Gesellschaftswissenschaften durchgeführt.

Die Analyse zur Darstellung Israels in Schulbüchern Berlin/Brandenburg wurde erstellt von den Berliner Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung in Kooperation mit dem Mideast Freedom Forum Berlin. Gefördert wurde sie durch die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung im Rahmen des Landesprogramms gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.

Die vollständige Analyse steht nun zum Download bereit.