Fragen und Antworten (FAQ´s)
In den FAQ´s zur Antisemitismusprävention finden Sie Antworten auf häufig gestellte Fragen rund um das Thema. Sie bieten Informationen zu Erkennung, Umgang und Präventionsmaßnahmen gegen Antisemitismus sowie Hinweise zu Anlaufstellen und Unterstützungsmöglichkeiten.
Was kann ich tun, wenn ich Antisemitismus an der UdK Berlin erlebe oder beobachte?
Sie haben die Möglichkeit, sich vertraulich an uns intern zu wenden und den Vorfall zu melden oder externe Beratungsangebote wie beispielsweise die von OFEK e.V., mit denen wir kooperieren, in Anspruch zu nehmen. Weitere Informationen zu den internen Meldemöglichkeiten finden Sie hier, sowie zu den externen Angeboten hier.
Welche historische Verantwortung trägt die UdK Berlin im Kontext ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus?
Ein umfassender Einblick in die Rolle der Vorgängerinstitution der UdK Berlin während der Zeit des Nationalsozialismus ist in der Publikationsreihe „Erinnerungsarbeit. Universität der Künste Berlin“ zu finden. Dort heißt es: „Erinnerungsarbeit ist an Orte, Architekturen und Räume gebunden. Sie ist unabgeschlossen, reich an Facetten und gehört zum institutionellen Selbstverständnis“.
Mit Blick auf die eigene Geschichte reflektierte eine Tagung im Jahr 2013 an der Universität der Künste Berlin die Kunstentwicklung in Nazideutschland. Prof. Dr. Wolfgang Ruppert hatte die Tagung konzipiert mit anschließender Publikation des Sammelbandes "Künstler im Nationalsozialismus. Die "Deutsche Kunst", die Kunstpolitik und die Berliner Kunsthochschule" (2015).
Der Freundeskreis der UdK Berlin | Karl Hofer Gesellschaft beteiligte sich an der Publikation des Sammelbandes, der einen systematischen Überblick über die Handlungsspielräume von Künstler*innen während der Zeit des Nationalsozialismus bietet. Beispielhaft werden Künstler*innen wie Arnold Breker, Emil Nolde, Oskar Schlemmer, Karl Hofer, Kurt Schumacher, Felix Nussbaum und Charlotte Salomon, die mit der Berliner Kunsthochschule verbunden waren und sind, dargestellt.
Eine Skulptur von Harro Jacob im Ruinengarten des UdK-Gebäudes in der Hardenbergstraße 33 erinnert an die Mitglieder der Staatlichen Hochschulen für Bildende Kunst und Musik, die zwischen 1933 und 1945 aufgrund antisemitischer, politischer und rassistischer Verfolgung Diskriminierung erlitten und schweren Schicksalen ausgesetzt waren. Diese Kolleginnen und Kollegen sowie Studierende aus Kunst, Musik und Verwaltung wurden unter Druck ihrer eigenen Gemeinschaft und mit administrativer Unterstützung vertrieben.
Das vorliegende Verzeichnis führt Angehörige der vorangegangenen Einrichtungen der heutigen UdK Berlin auf, die während des „Dritten Reiches“ (1933–1945) und in der Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus an ihrer jeweiligen Hochschule diskriminiert, verfolgt oder entlassen wurden. Sowohl Studierende als auch Lehrende sind berücksichtigt, wobei die Dunkelziffer gerade bei den Studierenden aufgrund der schlechten Quellenlage hoch sein dürfte.
Aus dieser Vergangenheit erwächst die heutige Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus, welche die UdK Berlin in vielfältiger Weise über Veranstaltungen, Publikationen und Ausstellungen wahrgenommen hat und weiterführt.
Welche Bedeutung hat die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus für den gesellschaftlichen Diskurs und für Bildungseinrichtungen?
Die IHRA-Arbeitsdefinition bietet eine erste Orientierung bei der Frage, ob Antisemitismus vorliegt oder nicht. Wichtig ist, dass sie klarstellt, dass der „Gesamtkontext“ zu berücksichtigen ist. Die IHRA kann sensibilisieren, wo die Grenze zu Antisemitismus überschritten wird. Insbesondere die Abgrenzung von zulässiger Kritik am Handeln der israelischen Regierung und israelbezogenem Antisemitismus scheint im Alltag manchmal unklar zu sein. 2016 verabschiedete die „Internationale Allianz zum Holocaustgedenken“ (IHRA) eine international und wissenschaftlich weit anerkannte Arbeitsdefinition von Antisemitismus.
Diese Definition liefert eine wertvolle Orientierung und ist ein nützliches Instrument bei der Einordnung von Fällen. Die Arbeitsdefinition hilft Vereinen, Universitäten, Regierungen oder Strafverfolgungsbehörden bei ihrer Arbeit. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat sie am 19.11.2019 angenommen. Auch die UdK Berlin nutzt diese Definition in ihrer Arbeit. Hier finden Sie den Wortlaut:
https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus
Hier ist der Originalwortlaut:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen:
Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.
Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:
1. Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
2. Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch Jüdinnen und Juden.
3. Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden.
4. Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
5. Der Vorwurf gegenüber den Jüdinnen und Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
6. Der Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
7. Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
8. Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
9. Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
10. Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
11. Das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel.
Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt sind (z.B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien).
Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht werden.
Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Jüdinnen und Juden Möglichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Eine solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten.“
Ein „Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ (2021), verfasst vom RIAS Bundesverband, der IHRA und der EU-Kommission, ist hier zu finden (siehe dort insbesondere Kapitel 3.3. zu Bildungseinrichtungen).
Die Antisemitismusforscher:innen Marc Seul et al. (2024) heben in ihrem Artikel „Probleme, Perspektiven und Aufgaben antisemitismuskritischer Forschung im Angesicht des 7. Oktober“ hervor: „Bei aller Notwendigkeit praxisbezogener Definitionen wie der IHRA-Arbeitsdefinition muss [die Antisemitismusforschung] dafür sensibilisieren, dass Definitionen im Antisemitismus phänomenbedingt an ihre Grenzen stoßen: ‚Weil sie kategorisch zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik, zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden, verfehlen sie die Verquickung beider Pole im antisemitischen Ressentiment, das sich nur allzu gern als legitime (aber angeblich tabuisierte) Meinungsäußerung ausgibt‘ (Lenhard 2020: 27). Ein bloßes Auswendiglernen der offensichtlich antisemitischen, ‚verbotenen‘ Symboliken, Chiffren, etc. käme dem gleich, was Adorno als „Halbbildung“ kritisierte: die der Erfahrung nicht mehr offene, gedankenlose Anwendung der von gesellschaftlichen Autoritäten vorgegebenen Kategorien und Maßstäben – nicht ‚die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind‘ (Adorno 1996 [1959]: 111). Halbbildung ist ‚fixiert an die Vorstellungen, welche sie an die Sache heranbringt‘ (ebd.: 118), und kann Äußerungen daher nur noch auf die Übereinstimmung mit einer vorgegebenen Checkliste an ‚Verbotenem‘ abklopfen. Diese Gefahr besteht durchaus, wenn Instrumente der Approximation […] nicht zu ihrem eigentlichen Zweck, der ersten Annäherung an die Frage, ob eine Äußerung/Handlung antisemitisch sein könnte, verwendet werden, sondern stattdessen verabsolutiert und gleichsam gedankenlos angewandt werden – ohne den etwa in der IHRA-Arbeitsdefinition zurecht platzierten Hinweis ernst zu nehmen, dass Äußerungen stets „unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts“ (IHRA o. J.) zu bewerten sind. Antisemitismus als Phänomen bewegt sich beständig „zwischen Kontinuität und Adaptivität“ (Schmidt et al. 2022), findet also stets neue Möglichkeiten der Kommunikation antisemitischer Motive und passt sich gesellschaftlichen Wertevorstellungen, Diskursen und den Bedingungen der jeweiligen Kommunikationsmedien an. Eine Liste aller antisemitischen Slogans, Chiffren, Codes, etc. kann dies nur verzögert nachvollziehen und abbilden. Daher ist es zentral, in Formaten des Wissenstransfers nicht (nur) auf ‚Antisemitismus-Kataloge‘ zu setzen, die so langwierig auszuarbeiten wie schnell wieder ‚outdated‘ wären. Statt also zu suggerieren, dass nur bestimmte Slogans, Chiffren, Argumentationsmuster oder Symbole zu vermeiden sind, die dann bequem auswendig gelernt werden – und im schlimmsten Fall bewusst umgangen werden – können, müsste es antisemitismuskritischer Bildung vielmehr darum bestellt sein, dass in den Formaten des Wissenstransfers die „zentrale Kommunikationsform“ (Hartmann 2021: 240) des Antisemitismus nach dem Holocaust bewusst gemacht wird: die „kalkulierte Ambivalenz“ (Wodak 2020). Zentrale Aufgabe des antisemitismuskritischen Wissenstransfers wäre es daher, diese Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten nicht der Kritik tendenziell zu entziehen, sondern sie vielmehr ebenjener zugänglich zu machen“ (S. 23-24).
Welche Formen von Antisemitismus gibt es?
Religiöse Formen der Judenfeindschaft (Antijudaistischer Antisemitismus): In der Vormoderne war Judenfeindschaft zumeist religiös begründet. Die alte, religiös begründete Judenfeindschaft des Mittelalters wird als Antijudaismus bezeichnet. Das Bild des verwerflichen und verachtenswerten Juden, das aus der christlichen Religion kam, und die Klischees, aus denen es sich zusammensetzte, prägten die Geisteshaltung und drangen tief in die Mentalität der europäischen Gesellschaft ein. Elemente dieser Form der Judenfeindschaft tauchen auch heute noch im Diskurs auf. Dazu gehört beispielsweise der christliche Vorwurf, Juden seien für den Tod von Jesus Christus verantwortlich, oder im islamischen Fall die Vorstellung, Juden würden den Koran verfälschen. Verbinden sich diese religiösen judenfeindlichen bzw. antijudaistischen Vorstellungen mit modernen Formen der Judenfeindschaft, kann man von einem christlichen bzw. islamischen Antisemitismus sprechen.
Moderner Antisemitismus: Der moderne Antisemitismus entstand im Zuge der Aufklärung. Als Prämisse galt nun die Idee einer (auch rechtlichen) Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer Religion. In Europa traten Juden in der Folge aus ihrer Randexistenz heraus und integrierten sich allmählich in die entstehende bürgerliche Gesellschaft. Es entstanden neue, nationale, völkische und rassenideologische Rechtfertigungsmuster des Judenhasses. Diese lösten die alten religiösen und wirtschaftlichen Stereotypen nicht einfach ab, sondern überlagerten sie. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Parteien, die den Antisemitismus zum zentralen Inhalt ihrer Programme machten. Juden werden im modernen Antisemitismus für die Probleme der modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht, für ökonomische Missstände, Finanzkrisen oder Kriege. In Verbindung mit Verschwörungsideologien wird Juden häufig eine große politische oder ökonomische Macht über die modernen Verhältnisse und die Staaten der Welt zugeschrieben. RIAS (2024) schreibt zu dieser Erscheinungsform u.a.: “Im modernen Antisemitismus werden komplexe (globale) Zusammenhänge auf vermeintlich einfache Art und Weise erklärt. Das dahinterliegende Weltbild basiert auf einem widerspruchsfreien „Gut-Böse-Schema“, wobei „die Juden“ als negative Projektionsfläche dienen. Dabei werden Jüdinnen und Juden wahlweise offen als Feindbild benannt oder codiert beschrieben. So wird Jüdinnen und Juden eine geheime Macht zugeschrieben, die sich beispielsweise in der Vorstellung ausdrückt, es gäbe eine „jüdische Elite“, die die weltweite Kontrolle über Medien, Wirtschaft, Regierungen und andere gesellschaftliche Institutionen ausübe, um eigene Interessen zu verfolgen.” Verbreitet tritt Antisemitismus heute in codierter Form auf und versteckt sich hinter Globalisierungskritik, Antiamerikanismus und Antiliberalismus. Selbstverständlich ist nicht jede Kritik an den USA, an der Globalisierung und am Kapitalismus antisemitisch. Nach dem Politikwissenschaftler Samuel Salzborn bietet jedoch „der moderne Antisemitismus als kognitives und emotionales Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen“. Vertiefende Informationen hier.
Verschwörungsideologischer Antisemitismus, hier der historische Extremfall des nationalsozialistischen Antisemitismus: Der nationalsozialistische Antisemitismus basierte auf völkischen und rassistischen Vorstellungen von Ungleichheit und abgestufter Wertigkeit von Menschen. Während die Deutschen als „Arier“ die „Herrenrasse“ darstellten, sahen die Nazis Juden als regelrechte „Gegenrasse“, von deren Vernichtung das Glück aller „Völker“ abhinge. Die systematische staatliche Ausgrenzung, Verfolgung aller Jüdinnen und Juden begann unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 und mündete in der Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden im Holocaust. Weniger bekannt ist heute, dass der rassistische Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten auch eine antizionistische Stoßrichtung hatte - also Jahrzehnte vor Gründung des Staates Israels (Weber 2020). Für Adolf Hitler war der Versuch einer Gründung eines zionistischen Staates ein Eckpfeiler in der Vorstellung einer „jüdischen Weltverschwörung“: „Der ganze Zionistenstaat soll nichts werden als die letzte vollendete Hochschule ihrer internationalen Lumpereien, und von dort aus soll alles dirigiert werden“. Vertiefende Informationen dazu hier. Der führende NS-Ideologe Alfred Rosenberg schrieb bereits 1922 ein programmatisches Buch mit dem Titel "Der staatsfeindliche Zionismus”. Die Idee eines jüdischen Staates wird darin als illegitimes, wurzelloses "Gebilde" denunziert, eine Erzählung, die auch in der nationalsozialistischen Propaganda für die arabische Welt zentral war (Motadel 2018). Dazu zählt im Besonderen die Ideologie, dass es sich beim Zionismus nicht um eine Bewegung mit dem Ziel jüdischer politischer Selbstbestimmung handelte, sondern dass es sich um eine globale jüdische Verschwörung handele.
Antisemitismus als Erinnerungs- und Schuldabwehr (Post-Schoa-Antisemitismus): Nach den nationalsozialistischen Verbrechen war offener Antisemitismus lange diskreditiert und wurde als Volksverhetzung teils auch strafrechtlich geahndet. Antisemitische Äußerungen überdauerten jedoch im privaten Raum. Das Konzept der „Kommunikationslatenz“ beschreibt diesen gesellschaftlichen Zustand: Die weiter vorhandenen antisemitischen, aber weniger offen kommunizierten Einstellungen drängen nach einer anderen Form der Artikulation. Dies war einerseits in rechtsextremen Vereinigungen möglich, andererseits über „Umwegkommunikation“. Antisemitische Einstellungen werden dabei beispielsweise über Chiffren und Codes vermittelt oder nur angedeutet. Beispielsweise wird von einer „Lobby“ gesprochen, die „in unserem Land das Sagen“ und die Erinnerungskultur aufzwinge. Zugleich kann sich der/die Sprechende auf das wörtlich Gesagte zurückziehen, falls eine brisante Situation entsteht (Schwarz-Friesel/ Reinharz 2013). Die Relativierung der Shoah und der Beteiligung der Täterschaft dient der Entlastung des nationalen Kollektivs und der eigenen Familiengeschichte. Dieser Wunsch nach Identifikation mit Familie und Nation spiegelt sich auch in Umfrageergebnissen wieder, denen zufolge 18% der Deutschen überzeugt sind, dass ihre Vorfahren Opfer des Nationalsozialismus geholfen haben, z.B. Juden versteckt hätten. In Wirklichkeit konnten sich Schätzungen der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zufolge ca. 5.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland durch Untertauchen retten, denen ca. 10.000 Menschen geholfen haben, das wären also 0,02 Prozent der damaligen Bevölkerung. Jüdinnen und Juden werden wahrgenommen als Verkörperungen einer unerwünschten Erinnerung an die deutschen Verbrechen, die einer ungebrochenen Identifikation mit der Nation im Weg stehen. Die Verweigerung einer Auseinandersetzung mit der Shoah geht häufig einher mit der Unterstellung, Juden zögen Vorteile aus der Vergangenheit, indem sie beispielsweise Druck auf Regierungen ausübten. Dieser Form der antisemitischen Erinnerungsabwehr ist also geprägt von der Vorstellung eines „jüdischen Kollektivs“, das den Juden Macht in allen Bereichen zuschreibt (Salzborn 2020).
RIAS (2024) schreibt zu dieser Erscheinungsform u.a.: “Post-Schoa-Antisemitismus fasst solche Bezugnahmen auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen zusammen, die diese bagatellisieren, relativieren, leugnen oder die Erinnerung an sie ablehnen. Dies kann sich auf die historische Realität der Schoa beziehen oder auf einzelne Aspekte, wie das Ausmaß (etwa die Zahl von 6 Mio. ermordeten Jüdinnen und Juden), die Mechanismen (beispielsweise die Gaskammern) oder die Vorsätzlichkeit des Genozids an den europäischen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer_innen und Helfer_innen. [...] Dies äußert sich auch in der Forderung von Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach einem ‘Schlussstrich’ unter die Erinnerung an die Schoa. Post-Schoa-Antisemitismus verschränkt sich häufig mit anderen antisemitischen Erscheinungsformen. So findet eine Verknüpfung von Post-Schoa-Antisemitismus und modernem Antisemitismus statt, wenn Jüdinnen und Juden unterstellt wird, sie würden von der Schoa profitieren, häufig verbunden mit Behauptungen, dass sie selbst für die Schoa verantwortlich seien. Dabei handelt es sich um eine Täter-Opfer-Umkehr. Formen der Täter-Opfer-Umkehr treten auch in Bezug auf Israel als jüdischen Staat auf. Häufig wird israelisches Vorgehen mit Verweis auf die Schoa kritisiert, indem die nationalsozialistische und israelische Politik gleichgesetzt wird oder erwartet wird, Israelis müssten es ‘besser wissen’. So verbinden sich israelbezogener Antisemitismus und Post-Schoa-Antisemitismus”.
Antisemitisches Othering (Verhältnis Rassismus/ Antisemitismus): Antisemitismus wird auch im Bildungsdiskurs oft als spezielle Form des Rassismus eingeordnet.
Die Einordnung des Antisemitismus unter ein anderes Gewaltverhältnis verdeckt dessen Geschichte und Wirkungsweise und überschreibt seine spezifischen Funktionen. Antisemitismus weist sowohl generalisierte als auch spezifische Dimensionen auf, wobei Gemeinsamkeiten ebenso wie Unterschiede bestehen.
Richtig ist zwar, dass mit dem modernen Antisemitismus schnell rasseideologische Rechtfertigungen des Judenhasses zentral wurden. Zudem gibt es deutliche Gemeinsamkeiten wie das Othering: Differenzen zwischen scheinbar unvereinbaren Gruppen werden konstruiert und mit kollektiv abwertenden Zuschreibungen verbunden. RIAS (2024) schreibt zu dieser Erscheinungsform u.a.: “Beim antisemitischen Othering werden Betroffene aufgrund einer (angenommenen oder tatsächlichen) Zugehörigkeit zum Judentum antisemitisch konfrontiert oder als nicht zugehörig zur jeweiligen imaginierten Wir-Gruppe adressiert. Jüdinnen und Juden oder Personen und Gruppen, die als jüdisch wahrgenommen werden, werden häufig negativ, oft widersprüchlich charakterisiert. „Das Jüdische“ wird dabei auf bestimmte Eigenschaften und Zuschreibungen fixiert und als fundamental verschieden dargestellt. Das „Andere“ im antisemitischen Othering wird kulturell, ethnisch und/oder religiös definiert oder mit imaginierten und antisemitischen äußeren Erscheinungsbildern beschrieben. Ziel ist auch eine Aufwertung des eigenen Selbst. Diese antisemitische Erscheinungsform äußert sich u.a. in Beleidigungen – beispielsweise in der Beschimpfung als „Jude“. Eine Markierung und Beschimpfung als jüdisch richtet sich auch häufig gegen nichtjüdische Menschen oder Gruppen. Sie sollen als Gegner_innen oder Feind_innen markiert werden, weshalb diese Erscheinungsform auch an Schulen oder beispielsweise im Fußballkontext regelmäßig dokumentiert wird. Aber auch wenn Jüdinnen und Juden aufgrund ihrer Erkennbarkeit als jüdisch angegriffen, bedroht oder beschimpft werden, handelt es sich dabei um antisemitisches Othering. Eine häufig dokumentierte Form des antisemitischen Otherings zeigt sich in Verbindung mit israelbezogenem Antisemitismus: Jüdinnen und Juden werden mit Israel identifiziert und für die israelische Politik in Haftung genommen.”
Trotz der Gemeinsamkeiten im Othering sind Rassismus und Antisemitismus nicht deckungsgleich und es wird beiden Phänomenen nicht gerecht, wenn man Antisemitismus als Unterform des Rassismus definiert, da es auch gewichtige Unterschiede gibt. So imaginieren sich Antisemit*innen die Jüdinnen und Juden als allmächtige Strippenzieher, die die Geschicke der Welt lenken würden. Sie machen sie für alle Missstände der Welt verantwortlich und glauben, dass die Welt nur durch ihre Vernichtung befriedet werden könne. Dieser Wille zur Vernichtung und das verbundene Heilsversprechen waren auch für den nationalsozialistischen Antisemitismus charakteristisch. Da diese zugeschriebene Allmacht keiner anderen marginalisierten Gruppe in dieser Form attestiert wird, braucht es gegen Antisemitismus spezialisierte, antisemitismuskritische Bildungsarbeit, die antisemitische Denkweisen irritiert und breit aufklärt. Das bedeutet für die Bildungsarbeit aber ausdrücklich auch, dass rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit ineinandergreifen sollten.
Beim israelbezogenen Antisemitismus richten sich antisemitische Ressentiments gegen den jüdischen Staat Israel. Judenfeindliche Zuschreibungen, wie Macht, Geld, Hintertriebenheit etc., werden auf Israel übertragen. Besonders deutlich ist dies zum Beispiel in der Parole „Kindermörder Israel“. In diesem Bild wird die mittelalterliche antisemitische Fantasie vom „Ritualmord“ aktualisiert, die den Juden vorwarf, christliche Kinder zu entführen und ihr Blut zum Brotbacken zu verwenden. Mit der aktuellen Parole „Kindermörder Israel“ wird eine mörderische Absicht unterstellt, die den jüdischen Staat und die israelische Gesellschaft dämonisiert und delegitimiert. RIAS (2024) schreibt zu dieser Erscheinungsform u.a.: “Von israelbezogenem Antisemitismus ist die Rede, wenn antisemitische Stereotype mit Bezug auf den Staat Israel geäußert werden oder offener Antisemitismus gegenüber Israel als jüdischem Staat geäußert wird. Wenn Jüdinnen und Juden beispielsweise für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden oder ihnen unterstellt wird, sie würden sich dem Staat Israel stärker verpflichtet fühlen als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer, handelt es sich um israelbezogenen Antisemitismus. Oftmals wird auch der Begriff „Zionismus“, bzw. „Zionist_innen“ (bewusst oder unbewusst) als Synonym für Jüdinnen und Juden verwendet, um so dem Vorwurf des Antisemitismus zu entgehen”.
Diese Form des Antisemitismus nimmt also sämtliche ältere klassischen Erscheinungsformen des Antisemitismus israelbezogen – d.h., wenn „Israel“ thematisch wird – wieder auf. Vertiefende Informationen dazu hier. Kein gesellschaftliches Milieu ist davon ausgenommen: In intersektionalen Diskursen wie in rechtsextremen Kreisen findet sich israelbezogener Antisemitismus. So äußert sich Antisemitismus in der Ablehnung jüdischer staatlicher Selbstbestimmung gegenwärtig auch als Antizionismus. Der Soziologe David Hirsh stellt fest, dass trotz der Behauptung, Antizionismus sei kein Antisemitismus, sich fast immer Antisemitismus beobachten lässt, wenn antizionistisch Gesinnte politisch agieren und dabei den jüdischen Staat unter allen relativ ähnlichen Staaten in singulärer Weise herausgreifen, den jüdischen Charakter des Staates bekämpfen sowie aus klassischen Stereotypen heraus beschimpfen (Hirsh, David 2018). Der Politikwissenschaftler Stephan Grigat analysiert: Neben „universalistischen, meist linken Argumentationen“ bilden einige „ultraorthodoxe jüdische Gruppierungen“ eine höchst seltene Ausnahme zum aktuellen Antizionismus, da sie nicht antisemitisch motiviert einen jüdischen Staat prinzipiell ablehnen. Bei “Boycott, Divestment and Sanctions” (BDS) ist Antisemitismus empirisch nachgewiesen: BDS dämonisiert den jüdischen Staat, bewertet mit doppelten Standards, delegitimiert Israel in seiner Existenz und greift Juden in Israel und der Diaspora an; zudem wird die BDS-Bewegung von terroristischen Organisationen mitbeeinflusst, da die Hamas, der Islamische Jihad in Palästina (PIJ) und die Palästinensische Befreiungsfront (PFLP) im palästinensischen BDS National Comittee neben anderen als Council of Palestinian National and Islamic Forces organisiert sind. Auch historisch ist klar, dass die BDS-Kampagne mitnichten erst bei der offiziellen Gründung am 9. Juli 2005 entstand (um den Anschein zu erwecken, sie sei aus der sogenannten „palästinensischen Zivilgesellschaft“ heraus entstanden), sondern auf die „UN-Weltkonferenz gegen Rassismus“ im September 2001 in Durban zurückgeht, als es während der Konferenz zu antisemitischen Exzessen und Gruppenbildungen kam. Siehe Feuerherdt, Alex/ Markl, Florian 2023; Müller, Natascha 2022; Baier, Jakob 2021; Ionescu, Dana 2020; Nelson, Cary 2019; Hirsh, David 2018. Aktuell ist die neue Studie (2024) vom Bundesverband RIAS zu BDS in Deutschland hervorzuheben.
In der Realität gibt es zwischen diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen durchaus Überschneidungen. Die oben genannten Formen des Antisemitismus erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Wie unterscheide ich zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus?
Hilfreich dazu ist u.a. eine pädagogische Handreichung der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS, 2018). Als kurzes Faltblatt gibt es diese Übersicht der AAS.
Was israelbezogener Antisemitismus ist, beschreiben Thomas Haury und Klaus Holz (2023) hier einführend. Siehe ergänzend dazu auch die Übersicht von Lars Rensmann (2021)
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat im August 2024 ihr Dossier zu Antisemitismus überarbeitet.
Einen fundierten Einstieg gibt auch Samuel Salzborn (Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus) in diesem Interview für die Arolsen Archives (2021).
Die Antworttexte wurden in Zusammenarbeit mit unseren Kooperationspartner*innen erstellt.