Praxissemester
Ziel des Praxissemesters für das Fach Kunst ist es, den Studierenden einen reflexiv-experimentellen Erprobungsraum für die ästhetische und künstlerische Bildungspraxis mit Kindern zu eröffnen.
Download: aktueller Rahmenlehrplan Kunst für Berlin und Brandenburg (PDF)
ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG IM FACH KUNST IN DEN JAHRGANGSSTUFEN 1-10
Kirsten Winderlich
Das Besondere des neuen Rahmenlehrplans für das Fach Kunst in Brandenburg ist, dass dieser die individuellen Weltzugänge von Kindern und Jugendlichen einbindet und für die Entwicklung der künstlerischen Praxis produktiv macht. Damit werden allen Lernenden entsprechend ihrer Fähigkeiten, sowie unabhängig von Herkunft und Kultur, Möglichkeiten für eine individuelle ästhetische und künstlerische Bildung eröffnet. Grundlage hierfür ist, dass sich Kinder von Anfang an mithilfe ihrer eigenen ästhetischen Praktiken, die gebunden sind an die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit, die Aisthesis, Zugänge zur Welt verschaffen und diesen entsprechend Ausdruck verleihen. Unter ästhetischen Praktiken sind dabei u. a. das Spielen, das Sammeln, das Experimentieren sowie der intrinsisch motivierte Ausdruck in den Künsten zu verstehen.
Um die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit weiterzuentwickeln, ist Übung notwendig, eine Form von Übung, die Georg Picht (1986) als „Übung in der Aisthesis“ (Picht, 1986. Kunst und Mythos) bezeichnet. Mit „Übung in der Aisthesis“ ist jedoch nicht gemeint, dass die Sinne voneinander isoliert geschult oder als Werkzeuge betrachtet werden, die es zu verbessern gilt. Vielmehr bedeutet Üben in diesem Zusammenhang, „sich in der Welt als waches handelndes Ich zu bewegen“ (Selle, 1988, S. 17).
Mit dem Bezug zur Übung wird deutlich, dass dieses Verständnis von Ästhetik nicht nur die Erkenntnis durch sinnliche Empfindung und Wahrnehmung, sondern die Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit umfasst. Eine besondere Ausprägung fand diese Bedeutung der Ästhetik in den Bildungsbegriffen von Friedrich von Schiller und Wilhelm von Humboldt, die sich durch folgende Denkansätze auszeichnen:
Während Friedrich von Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) verdeutlicht, welchen Stellenwert und Einfluss das Spiel als Initiator für pädagogische Veränderung hat, verknüpft Wilhelm von Humboldts (1767–1835) Bildungsbegriff, dem die Selbsttätigkeit von Menschen zugrunde liegt, logisch-rationales Denken mit ästhetischen und emotionalen Aneignungsformen (siehe von Humboldt, 2010, S. 234–240).
Zum Begriff der ästhetischen Erfahrung als Basis für die künstlerische Praxis
Der Kunstunterricht vor dem Hintergrund des neuen Rahmenlehrplanes fußt auf der „Übung in der Aisthesis“ und fordert, eine Vielfalt an ästhetischen Erfahrungen, die sowohl konstitutives Element der eigenen Weltzugänge der Kinder und Jugendlichen als auch ein bedeutendes Movens für die künstlerische Praxis sind, zu initiieren und zu fördern.
Ästhetische Erfahrungen beruhen auf eigenem Erleben und Handeln. Gegenstand der ästhetischen Erfahrung ist das aktive Verarbeiten, Reflektieren und Bewusstwerden der sich im Erleben, Wahrnehmen und Erkennen aufbauenden ästhetischen Erfahrung. Gert Selle sieht in der ästhetischen Erfahrung neben ihrer Bedeutung für die allgemeine Bildung einen wichtigen Baustein zur Persönlichkeitsbildung und beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: „In der psychischen und geistigen Biographie kann diese Anstrengung eine besondere Bedeutung gewinnen, nicht zuletzt, weil sie mit dem Lohn der individuellen Ausdrucksfähigkeit verbunden ist, über die man auf besondere Weise ermutigt wird ‚Ich‘ zu sagen“ (Selle, 1988, S. 31). Selle versteht diesen Prozess neben der Verarbeitung und Reflexion „gemachter“ Erfahrungen als eine Art „Probe-Erleben ersehnter und erträumter Erfahrung“ (Selle, 1988, S. 33) und führt aus, dass ästhetische Erfahrungen nicht bloß in ein Erinnern und Sichern führe, sondern auch in ein Vorstellen und Wünschen (siehe Selle, 1988, S. 33).
Um ästhetischen Erfahrungen im Kunstunterricht Raum zu geben bzw. um die bei den Kindern und Jugendlichen eigenen ästhetischen Praktiken zu initiieren, zu begleiten und zu fördern, ist eine wahrnehmende Haltung der Lehrkräfte notwendig, die über verschiedene Ansätze der Beobachtungs- und Dokumentationspraxis vermittelt werden soll.
Zur Struktur ästhetischer Erfahrung
Um ästhetische und künstlerische Bildungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen initiieren, unterstützen und begleiten zu können, ist eine Konturierung der spezifischen Strukturmomente ästhetischer Erfahrung notwendig. Letztlich kann sie Lehrkräfte auch unterstützen, um in Anlehnung an den Rahmenlehrplan die Beobachtungs- und Dokumentationspraxis der ästhetischen und künstlerischen Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen aufzuzeigen und diese in der daran anknüpfenden Unterrichtsplanung und -praxis aufzugreifen und differenzierend produktiv zu machen.
Ästhetische Erfahrung kann in drei aufeinander aufbauenden Strukturmomenten erfasst werden:
der sinnlichen Wahrnehmung,
der ästhetischen Wahrnehmung,
der ästhetischen Erfahrung.
Ausgangspunkt der sinnlichen Wahrnehmung sind Sinneseindrücke, die Gerd E. Schäfer (2001) in drei Formen der Wahrnehmung unterteilt. Er unterscheidet die Wahrnehmung über die Fernsinne, die Innenwahrnehmung des Körpers und die emotionale Wahrnehmung. Die Innenwahrnehmung lässt sich über den Gleichgewichtssinn und die Tiefensensibilität weiter ausdifferenzieren. Bei der emotionalen Wahrnehmung handelt es sich um die Wahrnehmung der Beziehungen, die Menschen untereinander und zu den sie umgebenden Dingen und Räumen entwickeln.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sich die sinnliche Wahrnehmung als komplexer Prozess der Verarbeitung von sinnlichen Reizen der äußeren und inneren Welt gestaltet. Wenn der Mensch seine sinnlichen Wahrnehmungen auf eigene Weise miteinander in Beziehung setzt und damit sein individuelles Bild der Wirklichkeit konstruiert, kann von „ästhetischer Wahrnehmung“ gesprochen werden.
Auf der Ebene der ästhetischen Wahrnehmung werden die sinnlichen Wahrnehmungen in einen Gesamtzusammenhang eingebunden und interpretiert. Im Gegensatz zur sinnlichen Wahrnehmung lassen sich durch die ästhetische Wahrnehmung Objekte und Phänomene auch in ihrer Individualität und Besonderheit erfassen. Das bedeutet, dass die ästhetische Wahrnehmung über die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht, sich dabei nicht nur auf Details richtet, sondern insbesondere auf die Kontexte, in denen das Wahrgenommene steht. In diesem Zusammenhang ermöglicht ästhetische Wahrnehmung, das Besondere des Wahrgenommenen zu erfassen, d. h. Gegenstände, Räume und Menschen in vielen Dimensionen und aus multifokaler Perspektive. Mithilfe von Imagination wird das ästhetisch Wahrgenommene Teil des Subjekts (siehe Schäfer, 2001, S. 249 ff.).
Von ästhetischer Erfahrung kann dann gesprochen werden, wenn die ästhetischen Wahrnehmungen in den Kontext der Entwicklungs- und Bildungsgeschichte eines Menschen integriert werden. Dabei resultieren ästhetische Erfahrungen aus dem Verarbeiten, Reflektieren und Bewusstwerden der sich im Erleben, Wahrnehmen und Erkennen aufbauenden Erfahrung. Für Martin Seel (2004) ist die ästhetische Erfahrung hierbei als „Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung“ (Seel, 2004, S. 73) zu verstehen. Dabei machen weder Wahrnehmungsabläufe noch Wahrnehmungsereignisse für sich genommen ästhetische Erfahrung aus, sondern erst die Transformation der Wahrnehmung. „Eine Erfahrung machen heißt nicht einfach eine Ansicht und Absicht revidieren und gewinnen, sondern bedeutet, einen veränderten praktischen Bezug erhalten zu dem neu oder erstmals Angesehenen und Vorgenommenen“ (Seel, 1985, S. 79). Ästhetische Erfahrung beginnt demnach mit der Irritation der bisherigen eigenen Erfahrungsgeschichte.
Diese Irritation kann auch als Staunen oder als Überraschung erlebt werden, die mit der Erwartung auf etwas Neues verknüpft ist. Ästhetische Erfahrung beruht also für den Einzelnen auf der Besonderheit eines Momentes, der Ereignischarakter hat. Durch die mit dem Ereignis einhergehende ästhetische Erfahrung wird die bisherige Sicht auf die Welt ergänzt, erweitert oder revidiert. Dieses Neue kann Unsicherheit, aber auch Neugier schaffen (siehe Seel, 2004, S. 75). In diesem Zusammenhang formuliert Seel als wesentliche Bedingung für ästhetische Erfahrung die Offenheit und Bereitschaft, sich auf Neues und Unerwartetes, das das bisherige Bild von der Welt verändert und andere, neue Zugänge zur Welt herausfordert, einzulassen (siehe Seel, 2004, S. 76). „Ästhetische Erfahrung [...] kann nur geschehen, indem Subjekte sich einlassen auf die sinnliche Vergegenwärtigung von Phänomenen und Situationen, die ihren Sinn für das, was wirklich und möglich ist, auf bis dahin ungeahnte Weise verändern“ (Seel, 2004, S. 76).
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen zur Begriffsbestimmung und Struktur ästhetischer Erfahrung kann zusammenfassend gesagt werden, dass sich ästhetische Erfahrung durch folgende Merkmale auszeichnet:
Sie vollzieht sich immer im Kontext der Beziehungen und Handlungen des Individuums. Ästhetische Erfahrung entsteht dabei nie nur aus einer momentanen und spontanen Aufmerksamkeit heraus, sondern bezieht sich auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen, seine bisherigen Erlebnisse und Erfahrungen.
Ästhetische Erfahrungen beinhalten einen Moment der Überraschung, der im Individuum ganz unterschiedliche Gefühle bewirken kann. Ästhetische Erfahrungen können durch Irritation und Überraschung Neugier und freudige Spannung, aber auch Unsicherheit auslösen.
Ästhetische Erfahrung ist an die Entwicklung des Individuums gebunden. Sie wird von zurückliegenden Erfahrungen modifiziert und strukturiert. Ästhetische Erfahrung ist vor diesem Hintergrund immer prozesshaft, d. h. offen und unabgeschlossen.
Ästhetische Erfahrung lässt sich nicht von kognitivem Denken trennen, d. h. sie verbindet analysierendes Wahrnehmen und Denken mit der Wahrnehmung und Verarbeitung von bereits Erfahrenem. Dabei stehen ästhetische Wahrnehmung und kognitives Denken in Wechselbeziehung zueinander (Schäfer, 2001, S. 251 f.).
Schlussfolgerungen für den Kunstunterricht in den Jahrgangsstufen 1-10
Die Ausführungen zum Wesen und zur Struktur ästhetischer Erfahrungen machen deutlich, dass ästhetische Erfahrungen eine immense Bedeutung für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen wie für den Kunstunterricht im Besonderen haben, baut dieser doch auf der ästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit auf.
Die Herausforderungen für Kunstlehrerinnen und Kunstlehrer liegen dabei weniger und primär in der Anwendung erprobter kunstdidaktischer Konzepte und beispielhafter Unterrichtsplanungen (siehe Winderlich, 2016, S. 118 ff.) als vielmehr in der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit für die Erfahrungen und das Können der Schülerinnen und Schüler sowie eine Experimentierfreude, Impulse für eine Erweiterung der ästhetischer Erfahrungen zu entwickeln. Verfahren der Beobachtung, Dokumentation und Analyse des Umgangs der Schülerinnen und Schüler mit den Impulsen können Lehrkräfte unterstützen, den Kunstunterricht im Hinblick auf die unterschiedlichen Niveaus der Schülerinnen und Schülern „maßzuschneidern“ und damit einer individuellen künstlerischen Förderung Raum zu geben.
Literatur
Humboldt, Wilhelm von, 2010. Theorie der Bildung des Menschen: Bruchstück. In: Andreas Flitner und Klaus Giel, Hrsg. Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt: WBG, S. 234–240
Picht, Georg, 1986. Kunst und Mythos. Stuttgart: Klett-Cotta
Schäfer, Gerd E., 2001. Prozesse frühkindlicher Bildung. [Zugriff am: 25.9.2018]. Verfügbar unter: https://www.hf.uni-koeln.de/data/eso/File/Schaefer/Prozesse_Fruehkindlicher_Bildung.pdf
Berghahn, Klaus L., Hrsg. 2000. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam Junior
Seel, Martin, 1985. Die Kunst der Entzweiung: Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Seel, Martin, 2004. Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung. In: Gert Mattenklott, Hrsg. Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft, S. 73–81
Selle, Gert, 1988. Der Gebrauch der Sinne: Eine kunstpädagogische Praxis. Reinbek: Rowohlt
Winderlich, Kirsten, 2016. Kunstdidaktik anders denken. In: Kirsten Winderlich, Hrsg. grund_schule kunst bildung. Band 4: artist in residence. Oberhausen: Athena, S. 118–129
https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/rlp-online/c-faecher/kunst/kompetenzentwicklung/ (letzter Zugriff: 2.04.2019)