Dr. Séverine Marguin
Autonomie (er)leben: Zur beruflichen und räumlichen Gestaltung einer autonomen künstlerischen Praxis in Berlin ab 1990
Vor dem Hintergrund des Forschungsprojekts über die zunehmende Funktionalisierung im Kunstfeld und den damit verbundenen Verlust an Autonomie ist der Ausgangspunkt dieses Teilprojekts auf die Seite der Akteur*innen zu schauen: Wie erleben die Künstler*innen selbst diese Funktionalisierung? Anders gesagt, wie leben sie ihre Autonomie in diesem Kontext aus?
Die Autonomie wird hier zunächst im Sinne von Pierre Bourdieu als eine Haltung verstanden, die künstlerisch von Kühnheit geprägt ist und die sich vor allem an der Interesselosigkeit der Produzenten gegenüber ökonomischen Profiten und in der Ablehnung eines mondänen Lebensstils zeigt (Bourdieu, 1992). Diese Verweigerung jeglicher Kompromisse mag sich durch drastische Auswirkungen auf den Lebensunterhalt der Künstler*innen und dementsprechend auf die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Kunstproduktion äußern.
Es soll untersucht werden, wie sich in Berlin ab den 1990er Jahren die Autonomie von Künstler*innen im Alltag gestaltet. Im Rahmen einer empirischen qualitativen Untersuchung werden Fallbeispiele innerhalb der „freien Szene“ Berlins ausgesucht. Spezifischer Gegenstand der Untersuchung sollen solche Projekträume sein, die als nicht-kommerzielle und selbstorganisierte Initiativen potentiell künstlerische autonome Zentren im Sinne Bourdieus bilden. Methodologisch werden teilnehmende Beobachtung, biographische sowie Mental-Maps-Interviews eingesetzt. Dazu sollen u.a. Bild- und Grundrissarchiv von ehemaligen bzw. aktuellen Projekträume erschlossen werden.
Aus einer arbeitssoziologischen Perspektive geht es darüber hinaus darum, praxistheoretisch zu eruieren, wie die Künstler_innen eine berufliche Balance finden, um die „Freiheit“ in ihrer künstlerischen Praxis aufrechtzuerhalten. Diese offene Frage soll anhand dreier Schwerpunkte fokussiert werden:
Der erste Schwerpunkt behandelt die Frage des Autonomieverständnisses: Es geht darum herauszufinden, welche Werte die Praxis der Künstler*innen prägen. Sie streben nach Unabhängigkeit, aber von wem? Gegen wen positionieren sie sich? Was für ein Autonomieverständnis verteidigen sie? In Anlehnung an Bernard Lahire (2006) sollen hier sowohl die „interne Autonomie” (gegenüber anderen Akteuren des Kunstfeldes, ob Galerist*innen, Kunstinstitutionen, Kulturförderern usw.) als auch die „externe Autonomie” gegenüber gesellschaftlichen Mächten (ob Politik, Wirtschaft, Religion) hinterfragt werden.
Der zweite Schwerpunkt bildet die Frage der beruflichen Gestaltung einer autonomen künstlerischen Praxis: Was für eine berufliche Strategie verfolgen die Künstler*innen? Kunstsoziologische Studien zeigen, dass sich viele der Akteur*innen mit Brotjobs und familiärer Unterstützung über Wasser halten (Menger, 2009). Aber wie geht es langfristig? Welche Faktoren tragen zum Erhalt der Praxis bei? Anhand eines Generationenvergleichs über drei Jahrzehnte (Anfang der 90er Jahre, Anfang der 00er Jahre, Anfang der 10er Jahre) sollen solche Arrangements von Work-Life-Balance herausgearbeitet werden.
Der dritte Schwerpunkt bildet beinhaltet die Frage nach der räumlichen Gestaltung einer autonomen künstlerischen Praxis: Welcher Raum wird von den Künstler_innen geöffnet, um die Autonomie auszuleben? Hier geht es erstrangig um Arbeitsräume, ob für Produktion oder für Ausstellungen. Welche Funktion, aber auch welche Aura sollen diese Arbeitsräume haben? Gibt es spezifische Räume der Autonomie?
Insgesamt soll es in diesem Teilprojekt darum gehen, anhand der Befragung von Künstler*innen selbst etwas zu der Frage der Autonomie beizutragen, um so den Sinn ihrer autonomen Praxis besser zu verstehen.
Pierre Bourdieu: Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Seuil, 1992
Bernard Lahire: La condition littéraire. La double vie des écrivains, Paris: La Découverte, 2006
Pierre-Michel Menger: Le travail créateur. S’accomplir dans l’incertain, Paris: Seuil, 2009