Ferruccio Busoni
Ferruccio Busoni
Vor 100 Jahren, am 27. Juli 1924, starb in Berlin Ferruccio Busoni, italienischer Komponist und Wahlberliner, Klaviervirtusose, Verkünder des Neuen in der Musik und in den letzten Lebensjahren Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste, die heute legendär ist. Der runde Jahrestag ist Anlass, um diese bedeutende Musiker-Persönlichkeit in der Reihe der fakultätsgeschichtlichen Beiträge vorzustellen.
Bevor das Jahr 2024 zuende geht, fiel mein Blick noch einmal auf den Kalender. Dabei stieß ich auf zwei namhafte Verstorbene des Jahres 1924: Hermann Kretzschmar (1848–1924) und Ferruccio Busoni (1866–1924). Die beiden sind ganz unterschiedlich: Der eine war Ordinarius für Musikwissenschaft an der Berliner Universität und mit einem Führer durch den Concertsaal (zuerst 1887) populär; er setzte sich für die Reform des Schulgesangsunterrichts ein und amtierte von 1909 bis zum Ende der Kaiserzeit als kommissarischer Direktor der Hochschule für Musik. Mit Kaiser Wilhelm II. kam er gut aus. Der andere, ein avancierter Komponist, war ein Klaviervirtuose von internationalem Renommee und galt, allemal nach den Maßstäben der Zeit um 1900, als modern, ja futuristisch. Die Wahl für diese Dezember-Kolumne fiel auf Busoni – gerade in Berlin dürfte er manchem noch bekannt sein. Übrigens war er Arnold Schönbergs unmittelbarer Vorgänger als Kompositionslehrer in Berlin.
In die preußisch-deutsche Hauptstadt siedelte Busoni 1894 über; Stationen in Leipzig, Helsinki, Boston und New York lagen damals bereits hinter ihm. Mit Ende zwanzig hatte er schon beidseits des Atlantiks eine Karriere absolviert, auch als Lehrer. In Empoli bei Florenz war er als Sohn eines Klarinettenvirtuosen und einer Pianistin geboren worden. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er in Triest. Er trat als „Wunderkind“ auf und begann früh zu komponieren. In die Jahre, in denen das kaiserliche Berlin sein Lebensmittelpunkt war, fällt ein Höhepunkt seiner Erfolge als Pianist. Zugleich setzte er sich für zeitgenössische Kompositionen ein: 1902 nahm er eine Veranstaltungsreihe mit den Berliner Philharmonikern auf, in der neue und in Berlin noch unbekannte Werke vorgestellte wurden. Im Ersten Weltkrieg zog Busoni nach Zürich, in die neutrale Schweiz, sein Heimatland Italien trat ja als Gegner des Deutschen Kaiserreiches in den Krieg ein.
Dass Busoni im Staate Preußen als Lehrer für Komposition eine Anstellung fand, fällt in die Anfänge der Weimarer Republik. Seine Berufung war Teil der Erneuerung des Musiklebens, um die sich die demokratisch gewordene Kunstpolitik damals bemühte. Busoni hatte sich mit der kleinen Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, die 1916 in zweiter Ausgabe bei Insel erschien, zusätzlich Aufmerksamkeit verschafft. Die neue gegründete Zeitschrift Melos, die zum Berliner Organ der Neuen Musik wurde, rief ihn nach der Novemberrevolution von 1918 dazu auf, nach Berlin zurückzukommen. 1920 wurde er zum Leiter einer Meisterschule für musikalische Komposition an der Akademie der Künste ernannt, im Jahr darauf trat er seine Lehrtätigkeit an.
Die Berufung wurde durch eine neu entstandene personelle Konstellation im preußischen Kultusminsterium begünstigt, wenn nicht ermöglicht. Ein Schüler Busonis, der Pianist und Sozialist Leo Kestenberg, hatte dort soeben eine Tätigkeit als Musikreferent aufnehmen können. Ihm gelang es zum einen auf einer Reise nach Zürich, Busoni die Rückkehr nach Berlin schmackhaft zu machen. Und zum anderen konnte er dessen Namen im Ministerium lancieren. Dabei half ihm, dass der liberal eingestellte Staatssekretär Carl Heinrich Becker, ein Professor für Islamistik, gerade für Busonis elitäre, wenn man so will: grand-seigneurale Seite ansprechbar war. Kestenbergs Verhandlungsgeschick war auch dadurch herausgefordert, dass Busoni nicht etwa eine Professur für Klavier an der Hochschule annehmen wollte, sondern seine noch bessere Etablierung als Komponist betrieb. An der Hochschule wurde übrigens stattdessen einer seiner wichtigsten Schüler, Egon Petri, als „ordentlicher Lehrer“ für Klavier eingestellt.
Zu den Paradoxien der damaligen Zeit gehört, dass Busoni damals – ganz im Gegensatz zu seinem Naturell – als vermeintlicher Umstürzler angefeindet wurde. In der aufgeheizten Atmosphäre verfasste Hans Pfitzner ein Anti-Busoni-Pamphlet Futuristengefahr (1917). Entsprechend reserviert begegnete Busoni der Musik-Sektion der Akademie der Künste, in der nach wie vor Personen wie Carl Krebs einflussreich waren, die sich gegen ihn gewandten. Gegenüber Kestenberg äußerte sich Busoni zu den altmodischen akademischen Konventionen nicht ohne Humor, etwa als er beschrieb, wie ihm sein Honorar von einem Geldbriefträger überbracht wurde.
Während des Aufenthalts in Zürich hatte Busoni seine großzügige Wohnung in Schöneberg, Viktoria-Luise-Platz 11, mit ihrer stattlichen Bibliothek beibehalten. Er konnte sie nun trotz der Zwangsbewirtschaftung des Wohnraums, die in der damaligen Notlage eingeführt worden war, wieder beziehen, und er erhielt sogar die Erlaubnis, den Unterricht dort stattfinden lassen. Das Ambiente trug zur Ausstrahlung Busonis bei. Die Zahl der Schüler war klein, aber zu ihnen gehörte nicht zuletzt Kurt Weill, der zuvor bei Engelbert Humperdinck an der Hochschule studiert hatte, und ferner Philipp Jarnach und Wladimir Vogel.
Busonis Wohnsitz wurde für manchen jungen Musiker zu einer Anlaufstelle. Auch Max Rostal berichtet von einem Besuch, zu dem er zusammen mit Freunden gebeten worden war, um das Streichquartett eines Schülers aus der Taufe zu heben. Rostal beschreibt Busoni in seinen Lebenserinnerungen: „von hoher Gestalt, aufrecht, mit weißem Haar“, sei er „in einem fast priesterlichen schwarzen Anzug gekleidet“ gewesen, der an Liszt erinnerte. Als Busoni eine bestimmte Stelle der Interpretation zur Diskussion stellte, kehrte der junge Rostal mit einer gewissen Arroganz die Überlegenheit des technisch versierten Interpreten heraus. Busoni konterte „mit nachsichtigem Lächeln“: „Ich bin auch ein Virtuose“.
Die Beziehungen zur Hochschule für Musik waren, wie die Episode mit dem Flesch-Schüler Rostal ahnen lässt, vielfältig. Sie reichten bis zur Schulleitung: Busoni interessierte sich für Mikrointervalle und hatte den Bau eines Sechstel- und Drittelton-Harmoniums vorbereitet. Durch Kestenbergs Vermittlung setzte sich der stellvertretende Direktor der Hochschule für Musik, Georg Schünemann, dafür ein, dass die Pianofortefabrik Schiedmayer die Instrumente nach Busonis Ideen herstellte. Gleichzeitig experimentierte übrigens der tschechische Schreker-Schüler Alois Hába an der Hochschule für Musik mit Viertelton-Intervallen.
Aufgrund des frühen Tods von Busoni im Sommer 1924 währte seine akademische Lehrtätigkeit nur kurz. Seine Oper Doktor Faust wurde in Dresden posthum uraufgeführt, Philipp Jarnach hatte die Komposition ergänzt. Das preußische Kultusministerium engagierte sich auch für Busonis Vermächtnis: Sein Grab befindet sich, mit einer von Georg Kolbe in staatlichem Auftrag geschaffenen filigranen Skulptur geschmückt, auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße in Friedenau. Der Nachlass gelangte in die Staatsbibliothek zu Berlin. Diese widmete dem großen Musiker 2016/17 in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Institut für Musikforschung unter dem Titel Freiheit für die Tonkunst eine große Ausstellung.
Autor: Dr. Dietmar Schenk, ehem. Leiter des Universitätsarchivs