Wie die Berliner U-Bahn zum Ort meiner feministischen Rebellion wurde

Ein Essay über das Raum nehmen als Frau

von Marie Hecht

 

Raum kann vieles bedeuten: Bereich, Gebiet, Platz. Das Weltall, zum Beispiel, ist ein unendlich erscheinender, ein Zimmer, hingegen, ein durch vier Wände begrenzter Raum. Wir bewegen uns in digitalen Räumen. Wir teilen uns Räume. Soziale Räume, Kommunikationsräume, physische Räume.


Die U3 schlängelt sich durch den städtischen Raum. Vor den Fenstern huschen ein Park, Häuser, Kräne vorbei. Gleisdreick. Ich bin auf dem Weg zur Uni. Ich sitze in der Mitte einer Dreierbank zwischen zwei Menschen. Ich höre ein ruhiges Set auf Soundcloud und denke über den Text nach, den ich gleich präsentieren soll. Plötzlich hebt der Mann neben mir seinen Arm und legt ihn hinter mir auf der Sitzlehne ab. Ich bin irritiert. Das fühlt sich komisch an. Ich werfe ihm von der Seite einen Blick zu. Er starrt geradeaus. Ich nehme meine Stöpsel aus den Ohren, denn ich will ihn ansprechen. Keine Worte kommen aus mir heraus. Der Moment, der das Ventil meiner abrupten Wut hätte werden können, ist vergangen. Ich fühle mich extrem unwohl. Er ist mir viel zu nah. Zu nah an meiner Nackenhaut. Ich kann die Wärme seines Körpers an meinem Rücken spüren. Ich ekele mich. In meinem Kopf kreisen die Gedanken, während mein Körper sich verkrampft. Ich versuche Abstand zu nehmen und rutsche nach vorne. Ich fühle mich total überrumpelt und werde wütend, weil ich mich frage, wie er auf die Idee kommt, dass es okay wäre seinen Arm hinter mir auf die Sitzlehne zu legen. Er reagiert immer noch nicht. Kurz schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich ihn verletzen könnte, wenn ich nun meinen Platz wechsle. Was für ein Unsinn! Der Typ drängt sich mir auf und ich mache mir Gedanken darüber, ob ich ihn mit meiner Reaktion verletzen könnte? Ich stehe auf und lasse mich auf der leeren Bank gegenüber nieder. Ich kann sehen, wie er ganz langsam anfängt die Situation zu realisieren. Dass ich ihm ausgewichen bin. Ich gucke nicht weg. Er nimmt seinen Arm herunter und legt ihn in seinen Schoß. Auf meinem neuen Sitzplatz fühle ich mich wohl und sicher. Neben mir sitzt erst niemand. Dann eine Frau an meiner rechten Seite. Ich stecke die Kopfhörer wieder in mein Ohr, das Set läuft immer noch. Ich habe ein Lied verpasst. Obwohl ich wieder in meine Welt abtauchen kann, bleibt seine Person präsent für mich, bis er einige Stationen später aussteigt. Ich fahre bis Spichernstraße.


„Die anderen Menschen überschreiten durch Energie unsere Grenzen. Diese Energie ist der Kern menschlicher Kommunikation und Verbundenheit“ (1), schreibt Nora Amin in ihrem Buch Weiblichkeit im Aufbruch. Aber ist es nicht meine Entscheidung, mit wem ich mich verbunden fühlen möchte und mit wem nicht?


Die #MeToo-Debatte hat gezeigt, wie oft die Grenzen von Frauen* überschritten werden und wie wenig darüber gesprochen wird. Es geht um unsere Räume. Räume, die nicht respektiert werden. Unsere Körper sind die kleinsten Räume unseres Selbst. Ich selber bestimme die Grenzen meines Selbst. Wie nah darf mir jemand kommen? Mit welchem Raum fühle ich mich wohl? Was sind meine empfindlichen Bereiche und wer darf sich ihnen überhaupt nähern. Wie viel Platz braucht mein Selbst und wo verlaufen meine Grenzen? Für mich als Frau macht es einen großen Unterschied, in welchen Räumen ich mich aufhalte. Öffentliche Räume, private Räume, geteilte Räume, Alleinsein.

 

Welcher Raum erlaubt mir ganz ich selbst zu sein? Die Frau, die ich sein will?

 

Unsere Körper stehen in einem Verhältnis mit den Räumen, die uns umgeben. Mit den Eigenschaften, den Gegenständen, den Lebewesen. Wir sind eingebettet in unsere Umwelt und befinden uns in einem stetigen Wechselverhältnis. Mein Körper ist geprägt von meiner Sozialisierung, der Gemeinschaft die mich umgibt, meinen Erfahrungen. Mein Körper nimmt umgekehrt Einfluss auf eben diese Faktoren. „Das Selbst existiert in der Welt. Absolute Abgeschiedenheit gibt es nicht, wegen der Erinnerungen, der Vorstellungskraft und Visualisierung“ (2), schreibt Nora Amin.

 

Welcher Raum erlaubt mir ganz ich selbst zu sein? Die Frau, die ich bin?

 

Ich stehe vor dem goldumrahmten Spiegel in meinem ewig langen Flur. Es ist Sommer in Berlin und diese Woche sollen es bis zu 38 Grad Celcius werden. Auf meinem Nasenrücken stehen Schweißperlen. Ich schaue in den Spiegel und ziehe eine kurze Jeans an. Es ist bestimmt schon das zehnte Mal, dass ich mich heute umziehe. Langsam bin ich spät dran. Ich ziehe die kurze Jeans wieder aus und eine kurze, graue, lockere Hose an. Ich betrachte meine Beine im Spiegel. Ein Großteil von ihnen ist zu sehen. In meiner Wohnung, meinem eigenen Raum, kleide ich mich meist komplett anders als draußen. Freizügiger. Weniger bedacht. Ich frage mich, ob ich mich mit der Hose auf der Straße wohlfühlen werde und ärgere mich darüber, dass ich das Gefühl habe mich draußen anders kleiden zu müssen als drinnen und deshalb nicht das angemessene Kleidungsstück für heute finde. Ich ziehe die Hose wieder aus. Ich entscheide, dass ich mit ihr in der Stadt zu viel von mir preisgebe. Zu viel Angriffsfläche biete, positive und negative. Ich will mich nicht den ganzen Tag mit Blicken auseinandersetzen, die mir im Grunde genommen egal sind, es aber doch nicht sein können, weil ich eingebettet bin in diesen öffentlichen Raum voller Erwartungen, Bedeutungen und Urteile. Erschöpft setze ich mich auf mein Bett.


„Öffentliche Reaktionen auf den weiblichen Körper fallen [ … ] im Allgemeinen ganz anders als öffentliche Reaktionen auf den männlichen Körper aus“ (3) , stellt Nora Amin fest.

 

Ständig bin ich damit beschäftigt das zu berücksichtigen, einen Ausgleich zu finden oder es zu ignorieren. Sie schreibt: „Dem patriarchalen System zufolge ist das Weibliche dem Männlichen unterlegen. Bis heute gehören die Straßen den Männern – auch in den fortschrittlichsten Ländern. Frauen gelten als nachrangig. [ … ] Die körperliche Anwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum ist Ergebnis eines sehr langen Kampfes und die Spuren der Unterdrückung sind noch sichtbar.“ (4)


Ich sitze wieder in der U-Bahn und beobachte Menschen. Menschen, die ich als Frauen lese. Menschen, die ich als Männer lese. Je mehr ich die Menschen um mich herum und auch mich selbst beobachte, desto klarer wird mir: Männer nehmen in unserer Gesellschaft sehr viel Raum ein. Sie nehmen sich selbstverständlich den Raum, von dem sie glauben, dass er ihnen zusteht. Ich, als Frau sozialisiert, habe hingegen gelernt mich zurückzunehmen. Wenig Raum einzunehmen. Raum abzugeben. Ich kann dieses gelernte Verhalten abrufen und an mir beobachten. In den verschiedensten Alltagssituationen. In der Bahn schlage ich meine Beine übereinander und lehne mich ans Fenster. Auf der Straße weiche ich aus, wenn mir jemand entgegenkommt. Entschuldige mich sogar noch dafür, dass ich Raum eingenommen habe. Am Arbeitsplatz und in der Uni schiebe ich meine Sachen zur Seite, wenn sich jemand neben mich setzt. Ich spreche selten laut. In meinem gesamten Alltag habe ich gelernt Rücksicht zu nehmen und Platz zu machen. Ich darf nicht zu viel Raum einnehmen. Damit beschäftigen sich mein Kopf und mein Körper ständig. Weil ich eine Frau bin.


Je mehr man den patriarchalen Normen unserer Gesellschaft entspricht, desto mehr Raum kann man einnehmen. Weiße Männer sind daher in ihrem Alltag kaum eingeschränkt, ordnen sich selten unter und machen sich wenig Gedanken um ihre Akzeptanz und Wertschätzung in der Öffentlichkeit. Ich beobachte Männer und stelle fest, dass sie Räume ganz selbstverständlich für sich deklarieren. Sie ändern ihre Position kaum oder gar nicht, wenn sich jemand neben sie setzt. Die Person, die kommt, muss sich anpassen. Ihre Stimmen sind laut und durchdringend. Sie nehmen den Raum ein, in dem sie sich befinden. Ihren Raum und den Raum der anderen. Nehmen wenig Rücksicht. Müssen sie auch nicht. Schließlich sind die anderen Gesellschaftsmitglieder darauf ausgerichtet ihnen Platz zu machen. Sie müssen sich keine Gedanken um die anderen machen. Einfach weil sie Männer sind. Jeden Tag in der Bahn beobachte ich Männer, die so breitbeinig da sitzen, als hätten sie einen Amboss zwischen den Beinen. Daneben Frauen mit schmal zusammengestellten Beinen, zurückhaltend. Dieses Bild kotzt mich an! Diese Männer kotzen mich an!

 

Je mehr ich mich auf diese Verhaltensweisen sensibilisiere, desto wütender und verständnisloser werde ich. Auch ich will selbstverständlich meinen Raum einnehmen! Ich mache mir den Raum, meinen Körper und meine Position bewusst und starte ein
Experiment:

Ich nehme mir Raum.

 

Wieder in der U-Bahn: Ich atme tief ein und nehme meinen Körper wahr. Ich stelle meine Füße flach auf den Boden. Ich öffne meine Beine hüftbreit. Meine Hände lege ich auf die Oberschenkel. Meinen Brustkorb öffne ich und halte meine Schultern und meinen Rücken gerade. So sitze ich bequem. So fühlt es sich an meinem Körper den Raum zu geben, den er braucht. Ich muss lächeln. Es ist ein angenehmes Gefühl. Bequem. Es steigen Menschen ein und aus, setzen sich neben mich. Ich bleibe genauso sitzen. Höre meinen Lieblingspodcast. Bleibe ganz bei mir.

 

Es setzen sich Männer neben mich, die ihre Beine weit ausbreiten möchten. Sie stoßen an meine. Ich weiche nicht. Ich spüre ihre Irritation, dann die Spannung, die in der Luft liegt, wenn man nicht den vorgefertigten Mustern folgt. Den Normen, der Rolle, die uns zugeschrieben wird.

 

Diese Spannung zu halten ist keine einfache Aufgabe. Ich atme ein, bleibe, wie ich bin. Konzentriere mich auf mich. Mein Blick bleibt offen, nach vorn gewandt. Mein Oberkörper aufrecht. Ich vertiefe mich wieder in meinen Podcast. Das erste Mal Raum einzunehmen ist ein befreiendes Gefühl, gleichzeitig fällt es mir nicht leicht. „Die Dynamik, auf die wir stoßen, wenn wir es mit der körperlichen Anwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum zu tun haben, ist, wie auch ihr Zusammenhang mit Vorstellungen von Ordnung und männlicher Überlegenheit, politisch“ (5) , fasst Nora Amin zusammen. Meine U- und S-Bahnfahrten sind ab jetzt politisch. Feministisch.

 

Über die Monate fällt es mir immer leichter. Ich werde mutiger. Wenn mir etwas zu eng ist, spreche ich es an und ich teste Grenzen. Sitze mal ganz breitbeinig da. So wie die Macker. Ich stelle fest, wie gemütlich das ist. Wie gut es tut nicht eingeengt zu sein. Ich nehme mir den Raum, den ich brauche und bin bereit ihn zu verteidigen. Meistens führt mein Verhalten zu einer kurzfristigen Anspannung, die sich irgendwann auflöst, weil die Männer plötzlich konfrontiert sind mit ihren eigenen Körpergrenzen und sich zurücknehmen. Manchmal ernte ich irritierte Blicke. Frauen, die breitbeinig und aufrecht in der Bahn sitzen und nicht weichen, wenn ein Mann sich neben ihnen breit machen will, sind ziemlich selten. Ein paar Gleichgesinnte kann ich aber ausmachen. Einmal in der Bahn stellt sich eine schick angezogene Frau, ich schätze Mitte Fünfzig, in den kompletten Türbereich der Bahn. Sie steht zwischen den gelben Stangen selbstbewusst mitten im Raum. Ich bin begeistert!

 

Rathaus Neukölln. Mit einer Menge Menschen steige ich in die U7 ein. Die leeren Plätze sind schnell belegt. In einem Vierer sitzt ein junger Mann. Er nimmt mit seinen weit geöffneten Beinen und seiner breiten Schulterhaltung drei Sitzplätze des Sitz-Vierers ein. Ich setze mich neben ihn. Meine innere Haltung ist für mich schon fast selbstverständlich geworden. Ich begebe mich in meine angenehme Position. Mein Bein berührt sein Bein, weil dieses circa ein Viertel meines Sitzbereiches einnimmt. Wieder diese Spannung. Ich halte sie. Konzentriere mich auf mich. Nach einer Weile zieht er sein Knie etwas zurück. Ich rücke mit meinem nach. So sitze ich bequem. Bald stellt er sein rechtes Bein näher an seinen eigenen Sitz und sein linkes Bein näher an seine Körpermitte. Er beugt sich auf die Knie und schaut auf seinem Handy eine Serie. Er ist geschrumpft. Wir nehmen nun ungefähr gleich viel Raum ein. Ich triumphiere innerlich.

 

Meine Theorie ist, dass die meisten Männer nicht bemerken, dass sie so viel Raum einnehmen, bis sie damit konfrontiert werden. Wenn ich sie mit meinem Experiment, meiner Energie, meinem Selbstbewusstsein und meiner Körperhaltung, darauf aufmerksam mache, wird ihnen möglicherweise dann erst bewusst, dass sie sich in einem geteilten Raum bewegen und bis eben einen Großteil davon besetzten. „Der weibliche Körper in der Öffentlichkeit ist ein Knotenpunkt des Konflikts und des Kampfes“ (6) , schreibt Nora Amin. Machthierarchien werden tagtäglich von uns reproduziert und dadurch erhalten. Es sei denn wir machen sie uns bewusst und durchbrechen sie.


Wenige Räume in denen wir uns bewegen sind unendlich ausdehnbar. Sie sind begrenzt von Zeit, Breite, Höhe, Tiefe. Um also ein Gleichgewicht herzustellen, zwischen dem Raum, den mehrere Menschen einnehmen, darf eine Person nicht zu viel Raum einnehmen. Ist doch klar! Umgekehrt bedeutet Raum zu haben Macht zu haben. Raum einzuschränken macht Unterdrückung deutlich. Unterdrückt zu werden, heißt keine Macht zu haben. Vieles geschieht unbewusst, wir haben es unser Leben lang so gelernt. Die Rolle der Unterdrücker, die Rolle der Unterdrückten. Diese gilt es zu verlernen. Am Ende gibt es doch genug Raum für alle. Ich will Teil der Veränderung sein! Dafür nehme ich eine Anstrengung in Kauf, die ein Mann nicht aufbringen muss.

 

An Tagen, an denen ich mich schwach fühle, fällt es mir schwerer meinen Raum einzunehmen und gegebenenfalls zu verteidigen. Bei mir zu bleiben. Mich zu entspannen. Mein tägliches Experiment wird jedoch mit der Zeit zu meiner Normalität. In Situationen, die mir gefährlich erscheinen, fahre ich verschiedene Strategien. Kraft und Selbstbewusstsein zeigen ist eine. Rückzug und Schutz suchen eine weitere. Alles dazwischen ist ebenso gut.

 

Ich bin sechs Jahre alt. Ich gehe durch eine dunkle Straße, die eine Abkürzung meines Schulweges ist. Mich verfolgt jemand. Ich höre die Schritte. Ich weiß, dass es ein Mann ist. Ich spüre es. Dann drehe ich mich um: Eine dunkle, große Gestalt. Ich habe Angst. Ich sehe nur die Umrisse von diesem Mann, der mir immer näher kommt. Ich renne den dunklen Weg entlang, Bäume fliegen schattenhaft an meinen Seiten vorbei. Der Weg endet nicht, kein Licht in Sicht. Ich renne weiter, immer weiter, immer weiter. Regelmäßig werde ich in meiner Kindheit nachts von diesem immer gleichen Traum heimgesucht.

 

Ein Traum ist auch nur ein Raum mit ‚t‘.

 

Die Dominanz der männlichen Vorherrschaft reicht bis in diesen Rückzugsort hinein. Ich frage mich: Welche von meinen Räumen wollt ihr denn noch einnehmen?

 

„Wenn wir auf der Straße geradeaus gehen und plötzlich eine Person sehen, die auf uns zugeht, dann kommt es zwischen unseren Bewegungsdynamiken zu einer Aushandlung. Die Person, die sich durchsetzt, die Situation beherrscht, ist hier diejenige, die innerhalb dieser Bewegungspolitik die Machtposition innehat. Die Person, die nachgibt und die Richtung wechselt – oder der anderen Person ausweicht –, ist die unterlegene [ … ]. Diese politische, durch die Bewegung bestimmte Position ist oft gleichbedeutend mit einer Verfügung über den öffentlichen Raum.“ (7)

 

Ich weite mein Experiment auf die Bürgersteige Berlins aus. Ich weiche Männern nicht mehr automatisch aus. Ich gehe weiter. Wenn ich ganz bei mir bin, meine Kraftblase um mich herum aufbaue, weichen die Männer meist. Oder wir weichen beide ein bisschen aber nicht ich, die Frau, ist diejenige die selbstverständlich zur Seite geht. Auch das führt zu Irritation. An einem warmen Sommernachmittag kommt mir ein Mann entgegen. Ich gehe geradeaus weiter und unterhalte mich mit einer Freundin. Wir nehmen ungefähr drei Viertel des Bürgersteiges ein. Zu zweit. Der Mann wird schneller, er nimmt ungefähr drei Viertel des Bürgersteiges ein. Alleine. Ich weiche immer noch nicht. Wir kollidieren. Er schmeißt seine Schulter aggressiv gegen meine und brüllt mir hinterher: „Warum gehst du nicht aus dem Weg?“ Ich ignoriere ihn, denke aber: „Warum nicht du?“ Ich hätte es ihm ins Gesicht schreien sollen.

 

Wenn wir nicht anfangen uns den Raum zu nehmen, den wir brauchen, werden Männer den Raum nicht abgeben. Sie werden nicht weichen. Denn sie bemerken nicht, wie viel Raum sie einnehmen oder wollen es nicht bemerken. Sie denken einfach, dass der Raum ihnen gehört. Und sowieso heißt Raum abgeben, Macht abgeben und das tut weh.

 

An der gesellschaftlichen Position hängt so viel und die Chance auf mehr Gleichberechtigung macht Angst. Denn, wenn man sich nicht mehr über die machtvolle Position identifiziert, über was dann? Gleichberechtigung geht einher mit einer Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Privilegien. Zu bemerken wie viel Raum ich eingenommen habe und mich zurückzuziehen. Nicht so viele Menschen in dominanten Positionen sind dazu bereit. Einige schon, vermute ich.

 

Wenn wir uns als Frauen selbstverständlich mehr Raum nehmen, wird es Räume der Überschneidungen geben. Sie können Räume von Machtkämpfen werden. Spannungen erregen im Mindesten. Ganz besonders aber sind sie eine Chance der Neuordnung.

 

Raum freizugeben ist ein magischer Moment. Denn er erlaubt Muster zu durchbrechen und neue zu formen. Wenn leerer Raum entsteht, entstehen Alternativen. Es entsteht Spielraum.

 

Menschen, die immer wenig Raum eingenommen haben, treten plötzlich in die Präsenz. Strahlen, in ihren Fähigkeiten und Stärken. Menschen, die dominant waren in ihrer Position, können sich mal zurücknehmen. Unterstützend wirken. Merken, dass sie nicht der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens sind. Das kann sogar befreien und entspannen.

 

Seit ich mein alltägliches Experiment durchführe ist meine Körperhaltung viel aufrechter geworden. Meine Brüste, die schon oft zum sexualisierten Objekt wurden, verstecke ich nicht mit hängenden Schultern. Meine Schultern fühlen sich breiter an, präsenter. Nicht nur in den S- und U-Bahnen, sondern auch wenn ich laufe oder stehe. Es sind nun meist meine Schultern, die an die Schultern von Männern stoßen, wenn ich neben ihnen sitze. Nicht meine Beine. Ich spreche mit einem Freund über meine Entdeckung. Wir sitzen im Viktoriapark auf der Wiese. Er ist ein sensibler, kleiner und dünner Mann und hat oft damit zu kämpfen, dass er nicht in die männliche Norm passt. Er bemerkt etwas sehr Wichtiges: „Wenn du aufrecht bist, kannst du gut nach vorne gucken. Du kannst die Leute direkt ansehen, ganz genau fokussieren. Das ist Selbstverteidigung, Marie.“ „Ja“, denke ich. Erst jetzt wird mir bewusst, welche Bedeutung die gebeugte Haltung von Frauen, das Verstecken, die geschlossenen Körper für den Machterhalt des Patriarchats haben. Ich nehme das nicht mehr diskussionslos hin. „Ich suche nach einem Ort, an dem ich, als Frau, einen Tanz der Rebellion und der Freiheit tanzen kann“ (8) , wie Nora Amin sagt. Ich empowere mich auf den Bürgersteigen, U- und S-Bahnen Berlins.

 

1 Amin, Nora 2018. Weiblichkeit im Aufbruch, 8

2 ebd. 7

3 ebd. 36

4 ebd. 42 f.

5 ebd. 42 f.

6 ebd. 39

7 ebd. 73 f.

8 ebd. 29