Bericht zur Veranstaltung Zyklusorientiertes Üben und Musizieren

Quelle: I.Kletschke
Quelle: C. Freundel
Quelle: I.Kletschke
Quelle: I.Kletschke

Bericht „Zyklusorientiertes Üben und Musizieren“

Am Montag, 4. Dezember 2023 fand im Kleinen Vortragssaal Bundesallee der UdK Berlin das Podiumsgespräch „Zyklusorientiertes Üben und Musizieren“ statt, eine Veranstaltung der AG Frauenförderung der Fakultät Musik. Zu Gast waren die Sportwissenschaftlerin Prof. Kirsten Legerlotz von der Humboldt-Universität zu Berlin und die Sängerin Norma Widmer aus der Schweiz. Es sollte diskutiert werden, was aus den Bereichen, in denen der Zyklus als Einflussfaktor und der Körper als zentraler Leistungsparameter bereits erforscht werden, auf das Gebiet der Musik übertragen werden kann.

Die beiden Gäste eröffneten das Gespräch, durch das die Moderatorin Ellen Blümm führte, mit einem kurzen Bericht zu ihren jeweiligen Forschungsschwerpunkten zum Thema: Prof. Legerlotz ist am Institut für Sportwissenschaft der HU Berlin Professorin und forscht zu den Ursachen orthopädischer Sportverletzungen und deren Therapien. Im Zusammenhang mit hormonellen Einflüssen sowie der Möglichkeiten präventiver Einflussnahme befasst sie sich auch mit den Einflüssen des Menstruationszyklus bei Sportler:innen sowie schwangerschaftsbedingten Muskel-, Sehnen- und Gleichgewichtsveränderungen. Hierfür führt sie unter anderem zusammen mit dem Olympiastützpunkt Berlin sowie Sportfachverbänden Studien durch, welche die Auswirkungen der Zyklusphase auf Leistungsfähigkeit, Trainierbarkeit und Verletzungsanfälligkeit untersuchen.

Norma Widmer hat sich 2022 in ihrer Masterarbeit mit dem Einfluss der Hormone auf die weibliche Gesangsstimme beschäftigt und dabei ihren Schwerpunkt auf die Menstruation gelegt. So können bei Sänger:innen während des Menstruationszyklus auf den Stimmlippen verschiedene Veränderungen  beobachten werden, z.B. bezüglich Wassereinlagerungen, Spannung und Schleimproduktion. Dadurch dass Sänger:innen ihren Zyklus wahrnähmen, eventuelle Veränderungen und gegebenenfalls Beeinträchtigungen bemerkten und diese auch berücksichtigten, könnten sie in fragilen Phasen schonender mit der Stimme umgehen. Statt das Befinden zu verbergen oder zu überspielen, plädiert Widmer für einen rücksichtsvollen Umgang und eine gewisse „Nachsichtigkeit sich selbst gegenüber“, nicht nur bei Konzerten oder Auftritten, sondern auch beim Üben, Proben oder im Unterricht.

Im anschließenden Gespräch und der Diskussion mit dem Publikum wurden folgende Punkte deutlich:

  • Nicht der Zyklus, sondern das Ausbleiben der Menstruation ist ein gesundheitliches Problem. Eine zugrundeliegende Energiemangelsituation führt zu Änderungen der Hormonproduktion, welche die Fruchtbarkeit verringern. Auch wenn im Sport zunächst positive Aspekte dieses Energiedefizits registriert würden (z.B. kann Gewichtsverlust vorübergehend zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit führen), ist der Grad schmal, bis negative Begleiterscheinungen hinzutreten, wie z.B. Knochenbrüche oder psychische Auswirkungen. Da jedoch mit Trainer:innen selten über den Zyklus gesprochen wird, wissen diese oftmals gar nicht, dass bei den betreuten Sportler:innen eventuell kein Zyklus stattfindet und damit ein gesundheitliches Problem besteht. Eine ähnliche Lage kann in der Ausbildung von Profimusiker:innen vorliegen, wo Stress oder auch (durch Stress verursachte) Gewichtsabnahme zum Ausbleiben der Periode führen und auf gesundheitliche Probleme hinweisen kann.
  • Hintergrund der Tabuisierung der Menstruation und verwandter Themen bildet das noch immer herrschende Ungleichgewicht im Sport: Ungefähr 80 Prozent der Trainer:innen seien männlich, weit über 80 Prozent der Funktionäre ebenso. Diese Unterrepräsentanz zeigt sich strukturell auch in der Musik, z.B. in der Ausbildung. Eine Studierende erwähnte, dass sie beispielsweise nur drei Fehlstunden im Semester pro Kurs haben darf, sie aber wegen menstruationsbedingter Schmerzen im Semester ca. sechsmal ausfallen würde.
  • Eine anwesende Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie Beckenbodenspezialistin wies darauf hin, dass sich diese hormonellen Veränderungen über den Gesang hinaus auf alle Instrumente auswirkten. So seien Beckenboden und Bindegewebe z.B. für die „Stütze“ bei Bläser:innen eminent wichtig und durch Zyklus, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Wechseljahre beeinflusst. Ähnlich wie geschlechtsspezifisches Training im Sport gibt es hier bereits Ansätze, geschlechtsspezifische Techniken beim Üben zu entwickeln. Aus dem Publikum wurde auch darauf hingewiesen, welche wichtige Rolle Atmung, Zwerchfell, Haltung und Bewegung generell beim Musizieren haben, die auch durch den Zyklus beeinflusst würden. Hier böten Schulungen wie Feldenkrais, Alexandertechnik oder Spiraldynamik Wege an, den Körper wahrzunehmen und zu beeinflussen. Es wurde deutlich, dass es offenbar schon Wissen und Maßnahmen gibt, diese aber noch auf der Eigeninitiative einzelner beruhen und zu wenig in die Breite gestreut werden. Neben Angeboten in der Hochschulausbildung sind vor allem auch weiterführende Studien und Forschung notwendig.
  • Um Sportler:innen oder Musiker:innen betreuen zu können, muss es auf Seiten der Trainer:innen oder Pädagog:innen das Wissen geben, dass hormonelle Veränderungen Auswirkungen auf die sportliche oder künstlerische Praxis haben. Sie müssen in der Lage sein, diese bisher tabuisierten Themen anzusprechen. Einerseits gilt es, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, so dass über die Menstruation gesprochen werden kann, andererseits Techniken oder Tipps zu vermitteln, wie die betreuten Personen damit umgehen können. Sowohl das Wissen als auch der Umgang mit dem Menstruationszyklus sollten in der Ausbildung eine Rolle spielen.
  • Bisher wird die eigene Menstruation, wenn überhaupt, nur von bereits sehr erfolgreichen und erfahrenen Sportler:innen oder Musiker:innen thematisiert. Kirsten Legerlotz führte an, dass sich etablierte Athlet: innen eher trauen würden, für sich einzustehen. Neben dem Druck, seinen Platz im Leistungssport zu finden, würde dies durch einen meist männlich besetzten Trainerstab erschwert. Ähnliches wurde aus dem Publikum berichtet: So habe es auch in Deutschland ein großes Opernhaus gegeben, das seinen Spielplan nach dem Zyklus einer renommierten Sängerin gerichtet habe oder auch Institutionen, die „respect days“ für Ensemble-Mitglieder angeboten hätten. Hintergrund sei hier das Wissen, dass es bei der Menstruation neben Intonationsproblemen auch gefährlich für die Stimme werden könne, wenn diese an den „Tagen“ falsch genutzt würde. Andere Länder haben die Spielplananpassung an die Zyklen der menstruierenden Darsteller:innen bis heute beibehalten. Als Grund dafür, warum dies in Deutschland nicht mehr so sei, wurden die Leistungsgesellschaft und das große Angebot an gut ausgebildeten Sänger:innen angeführt.
  • Dies führte zu den wirtschaftlichen Auswirkungen, die mit der Menstruation einhergehen. So könnten sich jüngere, noch nicht etablierte Künstler:innen weder das Absagen von Konzerten noch die ausbleibende Gage erlauben. Dies treffe insbesondere auf freischaffende Musiker:innen zu, wo „bereits zehn andere bereit stehen, einen zu ersetzen.“ Statt dem Konkurrenz- und Leistungsdruck zu folgen, könne man sich zusammentun und für Solidarität eintreten. So gibt es bereits bei freischaffenden Künstler:innen die Praxis, sich gegenseitig bei Aufträgen im Krankheitsfall zu vertreten, oder auch in Kollektiven Formen der „Karrieresolidarität“, wo man Arbeiten übernimmt, um wechselseitig die Karriere voranzutreiben. Im Sport gibt es die Initiative „Athletinnen D“, in der sich Spitzensportler:innen u.a. für Chancengleichheit bezüglich Vermarktung, geschlechtsspezifisches Training und Familienplanung im Leistungssport einsetzen. Veränderungen kämen hier weiterhin wenig durch die Vereine und Verbände, sondern die Sportler:innen selber erkämpften sich Veränderungen, z.B. auch was Kleidungsvorschriften wie weiße Tenniskleidung in Wimbledon anginge.

Das große Interesse an diesem aktuellen Thema hatte sich vorab angekündigt: Die Podiumsdiskussion war bereits im Vorfeld breit wahrgenommen worden. So äußerten über die Sozialen Medien mehrere Personen das Interesse, die Veranstaltung zu streamen oder aufzuzeichnen, worauf allerdings verzichtet wurde, um eine geschützte Atmosphäre zu bewahren. Zwei Wochen vor dem Gespräch veröffentlichte das VAN Magazin am 25. Oktober 2023 das Interview „Viele Sängerinnen denken, sie wären die einzigen mit solchen Problemen“ von Merle Krafeld mit den beiden Gästen Kirsten Legerlotz und Norma Widmer, in dem bereits auf das Podiumsgespräch an der UdK Berlin hingewiesen wurde (nachzulesen unter https://van-magazin.de/mag/singen-menstruation-leistungssport-legerlotz-widmer/ ). Am Montagabend selbst spiegelte sich das breite Interesse in der überwältigenden Anzahl von mehr als 40 Teilnehmer:innen und einer angeregten Diskussion, die sich auch nach dem Ende der Veranstaltung fortsetzte: Das Publikum nutzte rege die Gelegenheit, sich auch im Anschluss an das Gespräch auszutauschen und eigene Gedanken auf Zetteln an einer Stellwand zu hinterlassen. Wie gut, dass Irene Kletschke bereits in ihrer Begrüßung darauf hinwies, dass weitere Veranstaltungen u.a. zum Thema Wechseljahre sowie eventuell ein Gesundheits- oder Aktionstag geplant seien und weitere thematisch passende Initiativen begrüßt würden.

(Bericht: Irene Kletschke, 12. Dezember 2023)